Letzte Ehre
Ich befühlte den Türrahmen und suchte nach dem Riegel auf meiner Seite. Auf der anderen Seite der Wand bewegte sich jemand unsicher auf dem Steg vorwärts, genau wie ich es getan hatte. Ich fand den Riegel und schob ihn so leise wie nur möglich durch den Bügel.
Ich hatte noch die Hand auf dem Riegel, als wie wild an der Tür gerüttelt wurde. Jemand auf der anderen Seite stellte das Türschloß auf die Probe. Eine Welle der Furcht durchfuhr mich und ließ mir die Tränen in die Augen schießen. Ich preßte mir eine Hand gegen den Mund, um ein Keuchen zu unterdrücken. Die Tür donnerte derart heftig gegen das Schloß, daß ich schon dachte, es würde nachgeben und so die Sicht auf mich freimachen. Stille. Dann begann der Boden wieder zu zittern, als Gilbert davonging. Ich blickte nach links und sah ihm nach, wie er den Steg hinabging. Ich betete darum, daß nicht ein Stück weiter unten noch eine hölzerne Tür wäre.
Er mußte in eine Sackgasse geraten sein, da ich ein paar Minuten später erneut den Fußboden unter seinem Gewicht erzittern spürte, als er ein zweites Mal an mir vorbeikam, diesmal auf dem Weg zu der Leiter, die in den Korridor hinabführte.
Ich wartete, bis ich mich sicher fühlte. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, lag aber eher bei fünfzehn Minuten. Dann streckte ich vorsichtig die Hand aus und schob den Riegel zurück. Ich neigte den Kopf, um zu lauschen, hörte jedoch nichts. Als ich die Tür öffnete, schrillte der Feueralarm los.
14
Das Öffnen der Tür und das gellende Läuten lagen so eng beieinander, daß ich schon glaubte, Gilbert hätte die Tür irgendwie präpariert. Die Sprinkler über mir begannen einen Sturzbach internen Regens zu versprühen. Der entfernte Geruch von Rauch wehte mir entgegen, so unverwechselbar wie der anhaltende Duft von Parfüm, wenn eine Frau vorübergeht. Ich ging wieder zurück zu den Fenstern mit der Aussicht auf den Ballsaal. Weder waren Flammen zu sehen noch dichte schwarze Rauchschwaden. Der Saal wirkte leer, hell und kahl. Jemand machte eine Durchsage durch die öffentliche Sprechanlage und gab Anweisungen oder Ratschläge dafür, wie sich die Hotelgäste verhalten sollten. Das einzige, was ich heraushören konnte, war die erstickte Dringlichkeit der Erklärung. Wo der Brandherd lag, wußte niemand.
Die Lichter gingen aus und stürzten mich in völlige Finsternis. Ich tastete mich hinüber zu der Holztür und konnte ungehindert von irdischen Besitztümern hindurchkriechen. Ich trug nur noch das Nötigste am Leib und fühlte mich leicht und frei und zugleich bange. Meine Handtasche war mein Talisman, so tröstlich wie eine Sicherheitsdecke. Ihr Umfang und Gewicht waren vertraut, ihr Inhalt Gewißheit dafür, daß bestimmte Dinge stets in Reichweite waren. Die Tasche hatte mir bereits als Kissen und als Waffe gedient. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ohne sie weiterzugehen, aber ich wußte, daß es sein mußte. Blind schätzte ich die Breite des Stegs ab und spürte den höhlenartigen Abgrund zu meiner Linken, wo meine Hand unvermittelt ins Nichts stürzte.
Die gesamte Umgebung war stockdunkel, aber ich konnte ein bedrohliches Knacken und Knistern hören. Es wehte ein scharfer Wind, der einen Funkenregen in meine Richtung trieb. Ich roch heißes, trockenes Holz, unterlegt mit dem beißenden Geruch petroleumhaltiger Produkte, die ihren chemischen Zustand änderten. Zögernd schlich ich vorwärts. Vor mir konnte ich mittlerweile einen sanften, rötlichen Schimmer ausmachen, der sich dort an der Wand abzeichnete, wo der Korridor nach links abbog. Ein langer Rauchschwaden wand sich mir um die Ecke entgegen. Wenn mich das Feuer auf diesem Steg erwischte, würde es vermutlich einfach vorüberziehen, aber die aufsteigende Wolke aus giftigen Gasen würde mich genauso radikal auslöschen wie die Flammen.
Das Wasser aus dem Sprinklersystem zischte zwar gleichmäßig, schien jedoch — soweit ich sehen konnte — keinerlei Wirkung auf das Feuer zu haben. Das Spiel des fahlgelben Lichts an den Wänden begann sich auszubreiten und zu tanzen, schob feine Asche und schwarzen Rauch vor sich her und verschlang sämtlichen vorhandenen Sauerstoff. Der Metallsteg war glitschig, und die Kette an den Rändern schwang heftig hin und her, als ich mich vorwärts bewegte. Die Sprechanlage meldete sich erneut zu Wort. Dieselbe Ansage ertönte noch einmal, eine verworrene Mischung aus Konsonanten. Ich erreichte das obere Ende der Leiter. Ich hatte Angst davor, dem um sich
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