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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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hinauf. Ich vollzog den Anstieg zuerst mit den Augen, ungewiß, was da oben sein mochte. Ich warf einen Blick zurück, da mir vage bewußt war, daß jemand hinter mir den Korridor entlangkam. Ich packte die erste Sprosse und stieg hinauf, wobei meine Reeboks leise tappende Geräusche verursachten. Am anderen Ende, das heißt sieben Meter weiter oben, hielt ich inne. Ein metallener Steg zog sich vor mir die Wand entlang. Ich war so nahe an der Decke, daß ich nur den Arm auszustrecken und sie zu berühren brauchte. Der Steg war nicht einmal einen Meter breit. Durch die aufragenden Schatten wirkte der Fußboden unter mir wie ein flacher, ruhiger Fluß aus Beton. Das einzige, was mich vor dem Herabfallen schützte, war eine Kette als Handlauf, die von senkrechten Metallstreben getragen wurde. Wie üblich, wenn ich mit Höhen konfrontiert wurde, war meine größte Angst der unwiderstehliche Drang, mich hinabzustürzen.
    Ich verlangsamte meinen Schritt auf Kriechtempo und drückte mich gegen die Wand. Ich wagte es nicht, schneller zu gehen, da ich fürchtete, der Steg könne sich aus den in der Wand befestigten Trägern lösen, die ihn hielten. Ich nahm an, daß ich nicht gesehen werden konnte, da mich hier oben die Dunkelheit umfing, aber der Korridor selbst wirkte wie ein Hallraum und tat meine Anwesenheit kund. Irgendwo hinter mir hörte ich harte Sohlen auf Beton, einen Laufschritt, der sich mit einemmal zu einem verstohleneren Schleichen verlangsamte. Ich ließ mich auf Hände und Füße herab und kroch vorsichtig rückwärts, während die metallene Fläche unter mir wankte und bebte. Meine Umhängetasche mußte ich mir dabei vor die Brust drücken. Ich versuchte, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, aber der wackelige Steg klapperte und hüpfte unter meinem Gewicht.
    Ich entdeckte eine kleine Tür an der Wand. Mit unendlicher Sorgfalt schob ich den Riegel auf und öffnete sie. Vor mir lag ein nur fahl erleuchteter, modrig riechender Durchgang von etwa einem Meter achtzig Höhe, den oben eine durchgehende Reihe Fenster mit Handkurbel umrundete, von denen manche offenstanden und künstliches Licht hereinließen. Der Fußboden des Durchgangs war mit Teppich ausgelegt und roch nach Staubfusseln. Ich tastete mich nach vorn, immer noch auf allen vieren, zerrte die Tasche aber mittlerweile hinter mir her. Die Stille wurde nur vom Geräusch meines gehetzten Atems durchbrochen.
    Ich drehte mich um und schloß sacht die Tür hinter mir, dann kroch ich zum nächstgelegenen Fenster hinüber und stand vorsichtig auf. Unter mir war einer dieser riesigen Säle für Bankette und Groß Versammlungen. Ein sich ständig wiederholendes Lilienmuster zog sich über den Teppichboden, stahlblau auf grauem Grund. Mehrere Schiebetüren ließen sich in der Mitte zusammenziehen, womit man den Raum geschickt in zwei Hälften teilen konnte. Acht gleichmäßig angeordnete Kronleuchter hingen wie Eiszapfenbündel herab und verströmten ein gedämpftes Licht. Außen herum, knapp unterhalb der Decke, verbarg die lückenlose Reihe verspiegelter Fenster den Raum, in dem ich stand. Ich warf einen Blick über die Schulter. Durch die Finsternis konnte ich den auffälligen Mechanismus eines Beleuchtungssystems erkennen, das sicher bei speziellen Gelegenheiten zum Einsatz kam, Flutlicht und Spot-Scheinwerfer mit verschiedenfarbigen Einsätzen.
    In dem durch die Fenster einfallenden Licht bückte ich mich, öffnete meine Tasche und holte meine Brieftasche heraus. Ich entnahm ihr meinen Führerschein, die Detektivlizenz und andere Identitätsnachweise, einschließlich Bargeld und Kreditkarten, was ich alles zusammen hastig in die Taschen meines Blazers stopfte. Ich packte Rays Autoschlüssel, meine Anti-Baby-Pillen, die Dietriche und mein Schweizer Offiziersmesser und verfluchte die Tatsache, daß Damenjacken nicht mit einer Innentasche ausgestattet sind. Ich kramte meine Zahnbürste heraus und steckte sie zu den anderen Gegenständen. Meine Jackentaschen platzten fast aus den Nähten, aber ich konnte es nicht ändern. Im Notfall bin ich bereit, schmuddelige Unterhosen zu ertragen, aber keine ungeputzten Zähne.
    Mir fiel auf, daß der Boden unter meinen Füßen kaum merklich vibrierte. In Kalifornien würde ich daraus schließen, daß ein Erdbeben von Stärke 2,2 wie eine Meereswoge durch die Erde schwappte. Ich warf den Kopf herum und sah zur Tür. Dann stellte ich meine Tasche beiseite, ging in die Hocke und watschelte durch den schmalen Durchgang.

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