Letzte Fischer
dir sagen.«
»Okay, könntest du denn jetzt meine Koje freimachen? Das wäre cool, dann könnte ich da oben ein bisschen schreiben.«
»Was willst du?«, fragte der Baske misstrauisch und erhob sich. Er räumte seine Sachen langsam von der oberen Koje ab, während Tommy ihm erklärte, der erste Erzähler sei ein Fischer gewesen, sein Name sei verlorengegangen, aber nicht seine Schrift. Sein Werk! Es sei zu Beginn des zweiten Jahrtausends vor Christus entstanden. Jahrtausends! Es sei eine mehrfach verschachtelte Erzählung, in der von einem Seefahrer die Rede sei, der sich als einziger einer schiffbrüchigen Mannschaft von hundertzwanzig Leuten auf eine Insel habe retten können. Die Insel des ka : »Weißt du, die Fischer haben nämlich das Erzählen erfunden. Stell dir vor, du fährst mit deiner Nussschale aufs offene Meer hinaus. Es ist Winter, es stürmt. Du bleibst vier Tage auf dem Wasser, du hast aber nichts gesehen, du hast gar nichts gefangen. So kommst du nach Hause, hungrig, durstig und mit leeren Händen. Du siehst die ausgehungerten Gesichter deiner Frau und deiner Kinder, da ist doch guter Rat teuer, oder? Alle sind ausgemergelt, Augenringe groß und schwarz wie Autoreifen. Die See hat dir nicht einen Fisch gegeben, also erzählst du von Fischen! Groß wie Häuser, schwimmende Fleischberge, du erzählst so gut von leckeren Fischen und von liebenswerten Nixen, dass der Hunger aus den Augen deiner Familie verschwindet. Das ist nämlich die zweite gute Eigenschaft eines Fischers: Er muss gut erzählen können. Er darf nie mit leeren Händen ankommen, und wenn es auch nur ein paar neue Geschichten vom Meer sind. Nixen haben dich beschenkt. Versunkene Städte hast du gesehen. Fliegende Holländer sind dir begegnet. Sprechende Fische. All diese Geschichten sind zwar schön, aber sie enden immer traurig oder gruselig. Sie alle handeln vom Sterben, denn das Handwerk des Fischers ist das Töten. Doch wenn die Zuhörer die Geschichten vom Sterben hören, dann erinnern sie sich daran, dass sie leben. Und das freut sie! Das gibt ihnen wieder Mut, Lebensmut, obwohl sie hungern. Ja, so fing das damals an. Du fügst beim Erzählen ein, dass ein Sturm dir all die schönen Fische, die du schon gefangen hattest, wieder geraubt hat. Aber das nächste Mal, sagst du, wirst du der Sieger sein! Dann wirst du den Sturm und die See besiegen. Mit deinem kleinen Boot wirst du das nächste Mal einen riesigen Fisch nach Hause bringen, der so groß sein wird, dass er nicht aufs Boot passt, so gewaltig, dass du ihn hinter dem Kahn herziehen musst. Doch diesmal bist du einfach froh, überlebt zu haben. Und am Ende ist deine Familie auch froh, dass du überlebt hast, dass du noch einmal mit dem Schrecken davongekommen bist. Ja, und so hast du deine Familie satt erzählt. Darum muss ein Fischer auch immer ein guter Erzähler sein«, schloss Tommy und merkte jetzt erst, dass der Harpunier sich an den Tisch gesetzt und ihm mit großen Augen zugehört hatte.
»Da könnte etwas dran sein«, sagte der Baske nachdenklich: »Ich kann mich an viele Geschichten erinnern, die meine Großeltern und Eltern erzählt haben. Alle waren sie Fischer, und Hunger kenne ich auch. Kenne ich zur Genüge.«
Tommy nickte stolz und fügte an, es könne ja sein, dass die Hirten die Gedichte erfunden haben, mit ihren Flöten und ihrer Langeweile beim Hüten, aber die Fischer haben das Erzählen aus purer Not heraus erfunden: »Mit nichts hat ein Fischer oft seine halbverhungerte Familie ernährt, weil er sie in den Schlaf erzählt hat. Ein Schlafender hat keinen Hunger. Ein Schlafender träumt von riesigen Fischen, und so ein Traum macht auch satt. Man erzählt immer aus einer Not heraus.«
Wieder dachte der Baske eine ganze Weile nach, ehe er sagte: »Und lesen tut man diese Geschichten auch aus einer Not heraus. Man liest, weil man weg will, weil man etwas Anderes will, weil man eine andere Umgebung will, weil man andere Menschen um sich haben will, oder weil man hören will, wie schlecht es anderen geht, damit man weiß, für einen selbst gibt es noch Hoffnung, auch in der allergrößten Not.«
»Schiffbrüchige, die sich gefunden haben?«, fragte Tommy überrascht: »Der Erzähler und sein Leser? Das Rettungsfloß heißt Sehnsucht?«
Der Baske nickte und meinte, vielleicht sei Tommy ja gar kein Blödmann: »Vielleicht!«
Der Junge biss sich auf die Unterlippe und kletterte auf seine Koje. Er schaltete das kleine Licht über seinem Kopf ein und schlug
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