Letzte Haut - Roman
Wohnungstür, aber Doktor Kurt Schmelz brachte nicht einmal die Kraft auf, einen Arm zu heben, auch wenn er das Klingeln jetzt deutlich hörte. Er konnte noch nicht einmal einen Laut hervorbringen, er konnte nur zu Tode erschöpft auf dem Bett liegen, warten, warten, und endlich hörte das Klingeln ja auch auf. Wer das wohl gewesen war? Er fragte es sich halbherzig, denn er wusste ja, dass Anna einen Schlüssel hatte. Hatte sie doch? Oder hatte sie ihn vergessen? Vergessen auf dem Wohnzimmertisch wie so oft? Unangekündigt verdoppelte sich sein Herzschlag, denn es sei ja allein Anna, war ihm klar, die ihn, als einziger Mensch auf dieser Welt, noch retten könne.
Er lachte, jedoch mehr innerlich, als dass wirklich ein Geräusch aus seiner verfaulten Mundhöhle drang, in der die Zunge unbeweglich und wie ein nasser Scheuerlappen liege, glaubte er, mit dem die Flure eines Hochhauses gewischt worden seien. Er keuchte, hustete, jammerte vor Qualen, aber er hörte es ja selbst, es seien alles keine Geräusch mehr, die man gemeinhin von einem Menschen erwarte. Nicht einmal Tiere, meinte er, stießen solch ekelerregende Geräusche aus. Schon die Geräusche vermittelten den Eindruck, als wäre dieser stinkende, aufgerissene und vor Fäulnis blubbernde Leib der Eingang zur Hölle selbst. Oder der Ausgang? Würden die Heerscharen aus ihm auf die Erde stürmen, oder waren sie nicht schon einst herausgestürmt, als er diese heute unbegreifliche, diese Menschen verachtende Tat begangen hatte? Noch ahnte er sie nur. Noch gestand er sie sich nicht ein, aber sie war da. Ihre Konturen zeichneten sich ab. Sie nahm Gestalt an. Die Haut zeige es ihm, meinte er, die Haut, die mit den Gefühlen verbunden sei, sie signalisiere ihm das Ende des Verdrängens, und er wollte Tatsachen schaffen. Er wollte Taten begehen, er wollte diesen Pfad des Erinnerns weiter entlang kriechen, auch wenn er längst den Preis kannte, den er dafür zu zahlen hatte. Und wäre der Teufel selbst einer der Wegelagerer, die ihn angriffen, nein, Doktor Kurt Schmelz wollte auch dann nicht weichen.
Wären nur nicht diese Fieberschübe, die ihm so grotesk vorkamen; beinahe eine übermenschliche Sehnsucht nach Hautkontakt. Der Wahn einer schönen und straffen und reinen Haut, das Phantasieren eines zärtlichen Umgangs mit dieser Haut, ein Genießen, sie zu ertasten an diesem anderen und herrlichen, an diesem jungen und blühenden Leib. Aber auch diese Zärtlichkeiten fremder Hände mit jener schönen und duftenden Haut, in der er selbst stecke; grotesk doch, diese Phantasmen hervorbringen zu müssen.
Könnte er doch wenigstens die Nachttischlampe anschalten, könnte er sich doch wenigstens soweit bewegen, aber wer wisse schon, vielleicht sei es auch gut so, meinte er, vielleicht würde er den Anblick seines nackten Schädels, der keine Haut und somit kein Gesicht mehr habe, in den Fensterscheiben gar nicht mehr ertragen. Er hatte ja auch gar keine Lider mehr! Er wäre ja in diesem Licht gefangen, das ihn blenden würde!
Und wie lächerlich doch, sich einen Enkel zu erfinden, der die Lebensgeschichte des Großvaters aufschriebe, wie lächerlich und dämlich. Wer nämlich mit h schreibe, sei dämlich. Nein, nein, man durfte nicht andere Schichten zwischen sich und sein Erinnern schieben, wenn man es ernst meinte, man musste schon das Ich zeigen, wenn man das Ich meinte. Und wenn man es konnte! Kurt Schmelz war sich klar darüber, dass er es nicht konnte, dass er für den nächsten Schub des Eingeständnisses erneut eine Glasscheibe benötigte, eine Mattscheibe, und mit einem Mal wusste er, wie er sich die Jagd nach den Beweisen gegen Karl Otto Koch vorstellen konnte. Er wollte sie sich nacherzählen, er wollte einmal versuchen, sie zu beschreiben, als habe er einen Film über diese Jagd bereits gesehen, einen Hollywoodstreifen selbstredend, einen Kriminalfilm natürlich, ein Stück pure Action eben, und also ein Heldenepos mit ungewissem Ausgang. Ein Held also, der nur einen Held gespielt habe, ein Held also, der alles Heldenhafte ablegen werde, und ja, hätte er noch Lippen gehabt, so hätte Doktor Kurt Schmelz jetzt gelächelt, während er dachte: Und Schnitt! Die Bettszene verschwimmt, wir sind in Buchenwald! Ein halbes Jahr, nachdem Karl Koch festgesetzt wurde. Es ist Anfang Dezember, der Dezember dreiundvierzig, ein kalter dritter Dezember, so kalt, wie ihn eigentlich nur Skandinavier kennen …
… SS Hauptscharführer Ernst Schmidt, Blockführer der
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