Letzte Haut - Roman
Strafkompanie, betritt das Arbeitszimmer, in dem der polnische Insasse Konstantino Severin gefesselt auf einem Besucherstuhl sitzt.
„Du hast also in der Gärtnerei einen verdammten Grünkohl geklaut und ihn sofort aufgefressen?“, fragte Schmidt und sah in das geschundene und geschwollene Gesicht des Häftlings, der zusammengekauert und mit vor Angst starrem Blick auf den Schreibtisch vor sich sah. Nur ja nicht hochschauen jetzt, war alles, was Severin durch den Kopf ging, nur nicht hochsehen. Und nur ja nichts erwidern.
„Ob du geklaut hast und unerlaubt gefressen hast?“, fragte Schmidt den Gefangenen und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Er baute sich vor ihm auf und drosch Dutzende Male in das Gesicht, in dem Adern aufplatzten, Wunden aufbrachen und die Lippen und Lider schwollen, doch Konstantino Severin hielt still. Er hielt aus, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben.
Er saß, ohne sich rühren zu können. Der Oberkörper war an den Stuhl gefesselt, die Arme auf die Lehnen und die Füße gegen die Stuhlbeine gebunden, allmählich traten die Adern an den Händen blau hervor, die Hände jedoch wurden weiß.
„Keine Antwort ist auch eine Antwort!“, sagte Schmidt, ging zum Schreibtisch, unterschrieb das Verhörprotokoll und holte zwei seiner Untergebenen als Zeugen herein.
„Hiermit spreche ich die Bestrafung aus“, sagte Schmidt und sah zu seinen beiden SS Scharführern, die ihre Pistolen hervorholten und auf den Insassen richteten, obwohl er gefesselt war.
„Diebstahl erwiesen, das Urteil ergeht wie folgt: Abschlagen der rechten Hand“, sagte er und sah Severin lächelnd an.
„Nein, nicht!“, schrie Konstantino Severin: „Bitte, Gnade! Es war doch nur ein Grünkohl! Ein Kohl!“
„Die Bestrafung ist sofort durchzuführen und dient als Abschreckung für das Gärtnereipersonal“, fuhr Schmidt fort, ohne auch nur einmal die Stimme zu heben.
So fest er konnte krallte Severin die Hände um das Ende der Armlehnen, doch was nützte es ihm? Er begriff es ja, aber nichts anderes blieb ihm doch übrig. Er schrie, er schrie hilflos, und er schrie so laut wie möglich, er appellierte an das Mitgefühl des SS Hauptscharführers, an die menschlichste aller Regungen, jedoch, es nützte nichts, gar nichts. Er wusste es ja, aber was konnte er sonst noch tun? Es waren Bestien, Bestien, die Menschen bei lebendigem Leib auffraßen, Bestien waren es.
„Halts Maul!“, brüllte Schmidt.
„Bitte, haben Sie Mitleid, Hauptscharführer! Es kommt nicht wieder vor, nie wieder!“
„Das denke ich auch!“
„Nicht meine Hand, bitte nicht!“
„Du wirst bezahlen! Du hast uns Deutsche beklaut! Das wird dich teuer zu stehen kommen.“
„Oh Gott! Ich flehe Sie an! Sie sind doch kein Unmensch! Sie sind doch keine Bestie!“
„Nein, aber du bist hier der Untermensch. Die Bestie bist also du“, sagte Hauptscharführer Schmidt.
„Bitte! Oh Gott, ich flehe Sie an! Ich hatte doch nur Hunger! Ich hatte doch zwei Tage nichts zu essen bekommen, ich hatte doch einfach nur noch so einen Hunger! Gnade!“
„Schnauze halten!“
SS Hauptscharführer Ernst Schmidt nahm einen Spaten, der in einer der Ecken des Arbeitszimmers stand, wischte altes Blut von ihm ab, ging zu Konstantino Severin, grinste ihn noch einmal an, holte aus und schlug mit aller Kraft zu.
Die Hand fiel zu Boden, Severin schrie und wurde fast wahnsinnig vor Schmerzen, vor Wut, und er zerrte wild an dem Stuhl, und er verstand lange nicht, was die Nazis noch von ihm wollten.
Die beiden Scharführer verbanden ihm routiniert die Wunde, damit das Blut nicht den teuren Teppich des Arbeitszimmers verunreinige, dann zwangen sie Konstantino Severin, das eigene Blut vom Boden aufzuwischen, während Ernst Schmidt zur Kantine ging, um einen Tee zu trinken.
Die beiden Scharführer zwangen Severin auch dazu, die abgeschlagene Hand aufzuheben, und sie wollten ihn dazu bringen, sie am Krematorium abzuliefern, aber unterwegs brach er ohnmächtig zusammen und musste von anderen Häftlingen auf die Krankenstation gebracht werden, wo er notdürftig versorgt wurde. Er überlebte und konnte nach Kriegsende als Zeuge aussagen.
Während Konstantino Severin an diesem dritten Dezember dreiundvierzig vom Appellplatz fortgeschliffen wurde, ging Hauptsturmführer Schmelz an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Das letzte halbe Jahr, das der Ermittlungsrichter in Buchenwald verbracht hatte, hatte auch ihn verändert. Seit der Verhaftung von
Weitere Kostenlose Bücher