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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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nicht mehr.“
    „Aber wöchentlich kommen neue. Wohin mit ihnen?“
    „Das, lieber Obersturmführer, das ist die wahre Frage aller Fragen, ich gratuliere!“
    „Ich verstehe also richtig? Hier kommen laufend im Sinne des Strafrechts Unschuldige an, die das Lager nicht mehr verlassen und deren Kleidung verbrannt wird, weil die Raumkapazität erschöpft ist? Ist das richtig so, habe ich es richtig verstanden?“
    „Jawohl, das haben Sie“, sagte Pister leise: „Und bitte zwingen Sie mich nicht dazu, es auszusprechen. Ich werde es nicht aussprechen. Nie! Niemals!“
    „Für mich lässt das nur einen Schluss zu: Sie sind ein Mörder! Ein Massenmörder!“, sagte Schmelz Pister mitten ins Gesicht, der erschrocken die Augen aufriss und erst ein paar Mal schlucken musste, ehe er mechanisch sagen konnte: „Der Führer befiehlt, und ich gehorche! Heißt die Ehre der SS nicht Treue?“
    „Sie ermorden hier am helllichten Tag … Massen … von Menschen … Massen! Wie? – Wo bin ich hier gelandet? – Für so einen Scheiß sterben an der Front täglich Soldaten! Für so einen Dreck!“
    „Willkommen, Ermittlungsrichter! Sie wühlen in der Scheiße, und wenn Sie glauben, Sie werden am Ende trotzdem noch nach Rosenwasser duften, dann sind Sie dümmer als Churchill, der uns den Krieg erklärt hat!“
    „Wo steht mein Auto?“
    „Vor dem Tor.“
    „Wo ist Heinze?“
    „Sitzt drin.“
VI
    „Alles Mörder da“, sagte Doktor Kurt Schmelz und warf sich zwei Stücke Zucker in seinen Kaffee. Mit energischer Geste rührte er um, viel länger als nötig, meinte Liebig, der zusammen mit Doktor Tarnat Schmelz gegenüber an einem der Tische im Essensaal des Hotels ‚Elephant‘ zu Weimar saß und verärgert auf die rotierende Hand des Vorgesetzten starrte.
    Liebig hatte einen Migräneanfall, und das hohe, klappernde Geräusch tat sein übriges, ihn zu quälen. Liebig meinte, heute habe sich mal wieder alles gegen ihn verschworen. Er war vierundzwanzig Jahre alt und seit einem Jahr bei der Kripo Berlin, wo er zusammen mit dem siebenundfünfzigjährigen Tarnat eine der mobilen Eingreiftruppen bildete, die direkt dem Chef der Kriminalpolizei, Gruppenführer Arthur Nebe, unterstand.
    Schließlich sagte Liebig doch: „Obersturmführer, gestatten Sie eine Bemerkung?“
    „Sicher! – Alles Mörder da!“
    „Der Zucker hat sich aufgelöst!“
    Das helle Klappern hörte auf der Stelle auf, doch jetzt fühlte sich Liebig von Schmelz gemustert.
    „Mir geht’s gut, nur die lange Fahrt!“, sagte er beschwichtigend: „Es geht mir wirklich gut.“
    „Ich hoffe es“, sagte Schmelz: „Meine Leute müssen belastbar sein. Gerade die jungen! Ich erwarte viel von Ihnen, Liebig, mehr als Sie glauben!“
    Liebig nickte und dachte, er werde schon zur Stelle sein, wenn es nötig sei, dann werde er schon da sein, keine Sorge!
    „Keine Sorge, Obersturmführer!“, sagte er: „Sie meinen, da in Buchenwald sind also Mörder eingesperrt?“
    „Nicht eingesperrt! Die Eingesperrten sind meist unschuldig. Zumindest im juristischen Sinne, soweit ich es überblicken konnte.“
    „Wie meinen Sie das?“, schaltete sich nun auch Doktor Tarnat ins Gespräch ein: „Ich verstehe nicht recht.“
    „Das habe ich erst auch nicht, Tarnat“, sagte Schmelz, nahm einen viel zu großen Schluck vom süßen Bohnenkaffee und verbrannte sich prompt die Zunge: „Da sind Sie nicht der einzige. Ich begreife es selbst immer noch nicht so ganz. Ich erinnere Sie an Ihre absolute Geheimhaltungspflicht! Noch vor einer Stunde stand ich genauso unschuldig wie Sie in diesem Lager, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Wie Schuppen!“
    Unauffällig massierte sich Liebig mit den Fingerspitzen die rechte Stirnhälfte, vergaß die Bewegungen aber schnell, vergaß auch, seinen Mund zu schließen, und starrte seinen Vorgesetzten mit großen Augen an, während Schmelz sagte: „Die Gerüchte, die in der Bevölkerung kursieren, die sind alle wahr! Alles wahr! Im Bezug auf die Juden.“
    „Möchten die Herren vielleicht noch einen Pudding zum Dessert? Oder einen kleinen Kognak nach dem Essen?“, fragte der Oberkellner, der sich derart geräuschlos an den Tisch begeben hatte, dass Schmelz hörbar zusammenzuckte, ehe er sagte: „Mensch! – Ja, drei Kognak! Und die Rechnung auf meine Zimmernummer!“
    „Doppelte?“
    „Ja, ja! – Weg jetzt, weg! – Also, meine Herren, halten Sie sich fest! Die Juden kommen alle in diese Konzentrationslager! Das ist äußerst

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