Letzte Haut - Roman
klar?
VERHANDELT
Der Verfall des Körpers beschleunigte sich mit jeder Stunde, der Verstand des alten Schmelz jedoch blieb soweit klar. Als würde er allein noch in seinen Gedanken leben, meinte er. Als wäre er allein in der Erinnerung noch lebendig. Und von der Umgebung spüre er kaum noch etwas, weil der Körper ihm zur Ruine geworden sei. Schutzlos, ohne Fenster und Dach, Wände bröckelten und fielen ineinander, während das gesamte Mobiliar noch intakt sei. Und zu allem Überfluss stehe die Haustür sperrangelweit offen. Kurt Schmelz seufzte auf.
Weder konnte er die Arme heben, noch die Beine oder den Kopf. Sein Körper werde zum Nichts, das der Wundbrand stets hinterlasse, meinte er.
So feucht und klebend war das Laken geworden, dass es ihm fast zu einer zweiten Haut geworden sei, meinte Schmelz, zu einer grauen, stinkenden, mit Eiter und Keimen durchdrungenen Haut, die einst schneeweiß gewesen sei, schneeweiß und nach Stärke duftend.
Schwarz sei es im Schlafzimmer, die Konturen der Möbel seien verschwunden, und selbst die Wände erkannte Doktor Kurt Schmelz in diesem wesenlosen Schwarz nicht mehr, das um ihn sei, in das er sich auflöse. Wo seien die Fenster? Wo sei die Zimmertür? Es sei alles verschwunden, nur nicht diese Fragen. Wie verbohrt war er damals nur gewesen, als er dem Vorschlag von Gestapomüller und Kaltenbrunner zugestimmt hatte? Diese vier Häftlinge zu töten? Vier Menschenleben zu einem Beweis zu erklären?
Was war nur mit ihm los gewesen? Wieso hatte er nicht begriffen, dass diese Tat ihn auch zum Verbrecher machen würde? Und dass dies die Absicht der Gruppenführer gewesen war? So hatten sie auch ihn in die Schuld verwickelt, in die allgemeine Schuld, zu jener Zeit ein Deutscher gewesen zu sein. Geworden zum Schuldigen, weil er gehandelt hatte, weil er immer wieder gehandelt hatte, weil er ständig Tatsachen geschaffen hatte, aber wer hatte das damals nicht?
Auch er hatte freiwillig gemordet, und er war genauso wie alle anderen, die gehandelt hatten, schuldig geworden! Die Nazis hatten ihn überlistet, wie sie das ganze Volk überlistet hatten; immer schön einen nach den anderen, diese Schlächter und Volksverführer, bis sie sich alle schließlich gegenseitig verführt hatten und niemand mehr wusste, wo oben war und wo unten, und bis es keinen Unterschied mehr zwischen dem Deutschen und der SS gab. War es so gewesen?
An seinem Ehrgeiz hatten sie ihn gepackt, an seinen Idealismus hatten sie appelliert, wie gut hatten sie ihn durchschaut! Das hatte die Waffen SS aus ihm gemacht, und er hatte es mit sich machen lassen, ja, er war von der Richtigkeit seines Tuns sogar überzeugt gewesen. Unfassbar, wie unfassbar das heute klang! War es aber so gewesen?
Er, Schmelz, Kurt, Jurist mit Doktortitel, Richter, er war zu einem Verbrecher in der Waffen SS Uniform geworden wie all die anderen auch, die diese Uniform getragen hatten und gegen die er selbst ermittelt hatte; so schlau, für so schlau hatte er sich gehalten damals, für so schlau und überlegen. Unfassbar.
Jeder in der Waffen SS war zum Verbrecher geworden. Und auch wenn es der stellvertretende Chefrichter des obersten SS Gerichts später dann in Nürnberg bestritten hatte, es war doch so gewesen. Jeden hatte dieses System zum Mörder gemacht, jeden, der nicht selbst ermordet werden wollte. Das hatten seine Ermittlungen in den vielen Konzentrationslagern nun mal zu Tage gefördert. Was Recht sei, müsse Recht bleiben, dachte er.
Reinecke hatte es zwar in Nürnberg nicht wahrhaben wollen, doch genau das hatte Doktor Kurt Schmelz dort offengelegt und bewiesen, denn es waren weit über vierhundert Fälle wegen Mordes gewesen, die in all den vielen Konzentrationslagern ermittelt worden und bis zum Dezember vierundvierzig bei den zweiundsiebzig SS Gerichten anhängig gewesen waren. So war es nun mal.
Tatsachen, gefunden von ihm selbst. Über vierhundert Fälle, Tausende von Tatsachen, im Geheimprozess gegen Koch der gesamten SS Führung zur Kenntnis gebracht. Standartenführer Karl Koch war nur der Auslöser gewesen, war nur der Schrei in die Berge, um die Steinlawine in Bewegung zu bringen.
Und knapp zweihundert Fälle wurden mit einem Urteil bis zur Kapitulation abgeschlossen.
Fünf Kommandanten von Konzentrationslagern wurden unter Anklage gestellt, zwei wurden bis Kriegsende zum Tode verurteilt. Angeklagt worden waren Amon Göth, Lager Krakau – Płazsów, Hans Hüttig, Lager Herzogenbusch, Wilhelm Göcke, Lager
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