Letzte Haut - Roman
er merkte, dass der Mann gestorben war. Auch das noch, dachte er: Diese Arschlöcher! Erschossen gehören die, erschossen! Allesamt! Allesamt!
Er ließ den Toten am Fenstergitter hängen, ging schnurstracks zum Krankenbau, trat ins Sprechzimmer des Lagerarztes Doktor Hoven und sagte: „Nummer sechstausendvierundneunzig, Herzversagen.“
Hoven hob nicht einmal den Kopf, zog einen leeren Totenschein aus der oberen Schreibtischschublade hervor und fragte: „Wo?“
„Baracke drei.“
„Wann?“
„Vor fünf Minuten.“
Weder fragte Hoven, wie dies geschehen sei, noch wollte er wissen, ob es Zeugen gegeben habe. Er nickte lediglich, als Schmidt ihn fragte, ob er sich einen Schnaps aus der Vitrine genehmigen dürfe.
Hoven unterschrieb den Totenschein, ließ Schmidt gegenzeichnen und befahl telefonisch die Verlagerung der Leiche Nummer sechstausendvierundneunzig von der Baracke drei ins Krematorium.
II
Wenig später saß Schmelz an diesem fünften Juli dreiundvierzig allein in seinem Arbeitszimmer und ärgerte sich, dass auch die Inspektion der Gärtnerei nichts gebracht hatte. Sicherlich, von den Früchten, die dort produziert wurden, kam nichts bei den Insassen an, für die sie doch eigentlich bestimmt waren. Vor seinen Augen waren sie abtransportiert worden, aber niemand hatte ihm einen Lieferschein oder wenigstens einen Transportschein für diese Fahrten vorweisen können. Der Verantwortliche der Gärtnerei berief sich einfach auf einen Befehl von Pister und dieser berief sich, wie nicht anders zu erwarten, auf Pohl. Er konnte sogar einen schriftlichen Befehl von Pohl vorlegen, aber der war so allgemein gehalten, dass er als Beweis nicht in Frage kam. Es war zum Verrücktwerden! Da wurde vor seinen Augen unterschlagen, aber Schmelz konnte nicht beweisen, dass zum einen der Mann von der Gärtnerei und der Lagerleiter ihren Teil am Verkauf abbekamen, und zum anderen, dass ein Drittel, wie bei allen Geschäften dieser Art, wie Schmelz erfahren hatte, direkt an den Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes ging; an Obergruppenführer Oswald Pohl persönlich. Pohl schützte diese Männer und ließ sich diesen Schutz bezahlen.
Pohl, Pohl, immer wieder Pohl.
Wie konnte Schmelz nur diesen Kreis durchbrechen? Er zermarterte sich das Hirn, aber er kam auf keine Lösung. Die Ware wurde auf dem Marktplatz von Weimar verkauft. Einige Weimarer lebten ganz gut vom Verkauf des Gemüses und Fleisches, das im Lager erwirtschaftet wurde. Von denen würde doch niemand gegen das Lager aussagen! Niemand sägte doch den Ast ab, auf dem er saß! Schon gar nicht in diesen Zeiten, wo alles knapper wurde. Und schon gar nicht, wenn die Unterschlagungen von der SS selbst gedeckt wurden. Nein, Schmelz musste einen Spitzel auf dem Marktplatz von Weimar platzieren, der die Beweise sammeln musste. Einen zuverlässigen Mann musste er organisieren, von dem niemand hier im Lager etwas wissen durfte. Dieser Mann musste Beweise finden und später auch eidesstattlich aussagen. Die Ware, die Buchenwald verließ, musste heimlich gekennzeichnet werden und in Weimar wiedergefunden werden. Dann mussten die Vertreiber unter Druck gesetzt werden, bis sie aussagten, woher sie die Waren hatten. Dann erst hätte Schmelz endlich etwas gegen Pister in der Hand. Aber leider kam es nicht auf Pister an! Pister war Pohl so egal wie irgendwer. Was gehen ihn Tausende Menschen an, wenn er Millionen machen könne, das war der legendäre Satz, den Pohl im Vertrauen immer wieder gesagt hatte, wie Schmelz erfahren hatte. Pister war für ihn auch nur einer von vielen, aber Koch, Koch war Pohls Freund! Nur Kochs Überführung konnte Pohl zum Wanken bringen.
Das Ziel bleibt Koch, Schmelz, verrenne dich bloß nicht, dachte er, während er vom Schreibtisch aufstand und ans Fenster trat.
Obersturmführer Schmelz hatte nicht gefragt, wem die Dienstwohnung vorher gehört hatte, die ihm in einer der Truppenkasernen zugewiesen worden war. Es war die Kaserne, in der ausschließlich obere Dienstgrade wohnten. Sie war dreistöckig und hatte zwei Haupteingänge. Schmelz wohnte im Aufgang B, mittlere Etage, rechte Wohnung. Das Schlafzimmer hatte einen Balkon, auf dem er aber noch nie gewesen war. Er hatte nur kurz festgestellt, dass man von ihm aus auf den Innenhof sehen konnte. Das Schlafzimmer war gute dreißig Quadratmeter groß, hatte ein Doppelbett und sogar eine Ankleide für die Dame des Hauses. Schminkspiegel, Kommode; alles war weiß gestrichen, sah filigran aus
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