Letzte Instanz
Erinnerungsstücke, Briefe, aus denen sich schließen
ließ, daß Melissa ein Leben auch außerhalb dieser Mauern führte. Einfach
nichts, außer einem schmalen Ordner mit bezahlten Rechnungen und abgerechneten
Schecks, aus denen sich das Leben der Frau rekonstruieren ließ, die sich hier
eingemauert hatte.
Schließlich blieb nur noch die Vitrine
im Wohnzimmer übrig. Ich versuchte, die Glastür zu öffnen, aber sie war
verschlossen. Adah sah mir zu und holte einen Schlüssel aus der Schublade des
Tischs neben dem Sessel. Als ich ihn in das Schloß steckte, sah mich die weiße
Katze mit großen blauen Augen angstvoll und bittend an. O nein, es passiert
dir nichts , dachte ich, hob sie auf und legte sie Adah in die Arme.
»Da!«
Ich öffnete die Vitrine. Die dicke
Staubschicht um einen Elfenbeineisbären erinnerte an ein Schneefeld. Die
Fußabdrücke des großen Jadekaninchens waren...
Das Kaninchen war, wie ich jetzt sah,
in Wirklichkeit eine Vase und sein nach oben gerecktes Maul die Öffnung für die
Blumen. Jetzt steckte ein zusammengerolltes Stück Papier darin. Ich nahm das
Kaninchen, untersuchte die Öffnung mit dem Fingernagel und zog das Papier
heraus. Ein Foto.
Es trug die gleiche Signatur wie die
Fotos in der Galerie des Instituts — Loomis — und zeigte die Terrasse hinter
dem Haus in Seacliff, auf der eine Cocktailparty stattfand. Im Vordergrund
unterhielten sich Lis und Vincent Benedict mit einem Paar, das ich nicht
kannte. Im Hintergrund hielt Russell Eyestone in einem Kreis von Männern hof.
Noch weiter hinten rechts befanden sich zwei junge Paare. Ich erkannte Cordy,
die ich schon auf Mikrofilm gesehen hatte. Sie lachte mit nach hinten
geworfenem Kopf, und ihr blondes Haar glänzte in der untergehenden Sonne. Neben
ihr stand ganz verzückt Leonard Eyestone. Louise Wingfield wirkte äußerst
gelangweilt, und ihr Begleiter—ein großer, schlanker, dunkelhaariger
Mann—lächelte höflich, den Blick jedoch auf einen fernen Punkt gerichtet.
Und? dachte ich und reichte Adah das
Foto.
»Muß Melissa etwas bedeutet haben«,
sagte sie, »aber, was? Und wann wurde es aufgenommen? «
Ich zuckte mit den Schultern und sah
mich nach einem Telefonbuch um. Es lag im Fach unter dem Tisch neben dem
Sessel. Ich schlug den Buchstaben L auf. Loomis Photography residierte an der
Natoma Street in South of Market. Ich wählte die Nummer, aber es wurde nicht
abgehoben.
Adah sah mich fragend an. »Den
Fotografen gibt es noch. Ich setze mich morgen mit ihm in Verbindung. Mal
sehen, ob er sich an etwas erinnert.«
Sie saß auf dem Sofa, die Katze noch
auf dem Schoß. Ihren Kopf hatte die Katze in Adahs Ellbogenbeuge gesteckt, aber
sie sträubte sich nicht. »Gehen Sie morgen nicht zu dem Prozeß?« fragte sie.
Der Prozeß! Ich sah auf die Uhr. Es war
schon Mitternacht vorbei. Jack würde inzwischen richtig wütend auf mich sein.
»Ich hoffe«, antwortete ich. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich noch einen
Anruf mache?«
»Seien Sie Melissas Gast.«
Ich ignorierte den Galgenhumor und rief
All Souls an. Als ich Jack erklärte, was passiert war, löste sich sein Ärger in
Luft auf. »Ich bin sowieso die ganze Nacht auf«, sagte er. »Komm vorbei, wenn
du kannst.«
Ich legte auf und fragte Adah: »Kann
ich das Foto über Nacht behalten?«
»Bitte sehr.« Sie hielt es mir hin.
»Ich bezweifle, daß es mit meinem Fall zu tun hat.«
Im Moment war ich da anderer Meinung.
Aber sie vertraute es mir an, schließlich hatten sie und ihr Kollege mir
bereits viel zuviel anvertraut. Sie konnten jetzt nur noch hoffen, daß ich
ihnen irgendein Ergebnis präsentierte.
»Danke.« Ich steckte es in meine Tasche
und zeigte dann auf die Katze. »Was fangen Sie mit ihr an? Ins Tierheim geben?«
Adahs Hand hielt beim Streicheln inne.
Sie sah sie an. Die Katze — das kluge Tier — sah bittend zurück. »Ach, zum
Teufel«, sagte sie, »vielleicht ist es Zeit, meine Warmwasserfische gegen etwas
Geselligeres einzutauschen.«
Ihre Worte versetzten mich ein paar
Jahre zurück — in die Wohnung einer anderen ermordeten Frau und zu einem
fetten, schwarzweiß gesprenkelten Kater namens Watney, der sich fauchend unter
das Sofa verkrochen hatte. Ich wollte ihn nur für die eine Nacht mit zu mir
nach Hause nehmen. Letztes Jahr war er hochbetagt gestorben und ruhte nun unter
meinem Rosenstrauch.
»Sie werden es nicht bereuen«, sagte
ich zu Adah.
26
Aus Jed Mooneys Reihenhaus kam
gedämpfte Musik. Als die Tür aufging,
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