Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
zu mir auf
der Treppe hoch. Er war groß und schlank. Er hatte Aknenarben im Gesicht, und
eine dichte Mähne fiel ihm fast bis auf die Schultern.
    Es war der junge Mann, der zu Louise
Wingfield in ihr Büro bei den Helping Hands gekommen war, als ich das erste Mal
mit ihr gesprochen hatte.
    Wie hatte sie ihn noch gerufen? Rick.
Sie hatte seinen Namen anglisiert.
    Chavez blickte noch einmal auf den MG
und zählte jetzt zwei und zwei zusammen. Dann stieg er wieder auf sein
Motorrad.
    »Rick, bleib, wo du bist!«
    Ich sprang die Stufen hinunter. Rick
warf die Maschine an. Ich machte einen Satz nach ihr, aber sie zog davon. Die
Auspuffgase trafen heiß meine Jeans. Ich sah dem Motorrad nach, wie es in
westlicher Richtung die Clipper Street hinauf davonbrauste.
    Mrs. Chavez stand mit offenem Mund auf
dem Treppenpodest. Ich rief ihr zu: »Wo fährt er hin?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Zu einem Freund? Einer Freundin?«
    »Sind Sie von der Polizei oder so,
Lady?«
    »Ich bin nicht von der Polizei.«
    »Aha.« Sie ging ins Haus und schlug die
Tür zu.
    Alles in Ordnung, dachte ich. Mit Rick
Chavez mußte ich im Moment gar nicht reden. Aber mit Louise Wingfield war jetzt
ein Gespräch fällig.
     
    Am ersten Abend unserer Pilgerfahrt
nach North Beach und Seacliff war Louise’ Wagen in der Werkstatt gewesen. Ich
hatte sie vor ihrer Wohnung an der Chestnut Street in Russian Hill abgesetzt.
Jetzt fand ich das breite, mit braunen Schindeln verkleidete Gebäude leicht
wieder. Es lag an der Nordseite der Straße, und große Glasflächen und
vorspringende Terrassen boten den Bewohnern einen Blick auf die Bay. Jedoch
nicht heute abend. Selbst hier hielt der Nebel die Stadt im Griff.
    Ich ging zum Eingang und sah mir die
Reihe der Briefkästen an. Louise Wingfields Wohnung schien den kompletten
zweiten Stock einzunehmen. Ich läutete. Keine Reaktion. Ich trat auf den
Gehsteig zurück und sah hinauf. Alle Fenster waren dunkel. Keine Wingfield.
Keine Antworten auf meine Fragen.
    Was nun?
     
    Auch in der James Alley hing der Nebel
so dick wie überall in der Stadt heute abend. Ich ging die Straße hinunter. Die
Häuser rechts und links dämpften die Geräusche des ringsum dicht besiedelten
Gebiets. Es war sehr dunkel, und nur wenige Fenster waren beleuchtet. Melissa
Cardinais Tür war nur schwer zu finden.
    Da war sie — die mit dem Gitter vor dem
Türfenster. Ich tastete nach den Klingelknöpfen und drückte auf den, den ich
für Melissas hielt. Keine Reaktion. Ich drückte auf die anderen. Auch nichts.
Bei meinen beiden Besuchen zuvor hatte ich keine anderen Bewohner wahrgenommen.
Vielleicht standen die anderen drei Wohnungen leer.
    Ich ging den Weg zurück, den ich
gekommen war, dann blieb ich stehen. Melissa hatte neulich große Vorsicht
walten lassen, ehe sie die Tür öffnete. Vielleicht stieg sie auch jetzt erst
die Treppen hinunter. Ich ging zur Tür zurück und lauschte, hörte aber nichts.
Schließlich griff ich nach dem Türknopf und versuchte die Tür aufzudrücken. Sie
stand einen Spalt offen.
    Ich entdeckte nichts, was sie am
Zuschnappen gehindert haben könnte. Ich wollte sie weiter aufschieben, stieß
aber auf Widerstand. Nachdem ich aus meiner Tasche eine Taschenlampe
hervorgegraben hatte, stellte ich mich auf die Zehenspitzen und leuchtete durch
das Drahtgitter.
    Was ich sah, gab mir Grund genug, die
Tür mit der Schulter gewaltsam aufzudrücken. Ich bekam sie etwa zwanzig
Zentimeter weit auf, genug, um mich ein Stück weit durchzuquetschen. Ich
leuchtete nach unten.
    Das Hindernis, gegen das ich gestoßen
war, war Melissa. Sie lag am Fuß der Treppe auf dem Boden. Der Kopf ruhte auf
der untersten Stufe. Ihr Rock war bis zur Mitte des Oberschenkels hochgerutscht
und gab die gespreizten Beine voller Krampfadern frei. Und das Blut...
    Es war an die Wände gespritzt. Die
Flecken schienen mir entgegenzuspringen, als der Strahl meiner Lampe über sie
glitt. Schon klebrig hier, dort noch feucht, und dazu der widerlich süße
Geruch, vermischt mit anderen, stechenderen...
    Mein Herz setzte einen Augenblick lang
aus, und dann fing es an zu rasen. Mein Magen revoltierte. Ich quetschte mich
wieder durch den Türspalt hinaus und benutzte den Mülleimer neben mir für die
Reste des türkischen Kaffees. Dann atmete ich tief durch, an die Wand des
Hauses gelehnt. Es dauerte mehrere Minuten, bis ich wieder soweit war, daß ich
hineingehen konnte.
    Sie war noch warm, hatte aber keinen
Puls mehr. Wäre da nicht das Blut gewesen,

Weitere Kostenlose Bücher