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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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konnte er nicht verraten - schon gar nicht der Presse -, warum er
wirklich
nach Kanada gezogen war.
    Stattdessen sagte Danny, nur zwei seiner sieben Romane könne man halbwegs politisch nennen; er war sich bewusst, dass er sich mit dieser Aussage in die Defensive brachte, doch es stimmte. Dannys viertes Buch,
Die Kennedy-Väter,
war ein Vietnamroman - und wurde als Protest gegen diesen Krieg gelesen. Das sechste,
Jenseits von Bangor,
war ein Bildungsroman - nach Auffassung mancher Kritiker eine Polemik für das Recht auf Abtreibung. Doch was war an den anderen fünf Büchern politisch? Zerrüttete Familien; belastende sexuelle Erlebnisse; diverse Verluste der Unschuld, alle mit Reue und Trauer verbunden. Diese Geschichten handelten ausnahmslos von kleinen, häuslichen Tragödien - keine einzige verurteilte die Gesellschaft insgesamt oder eine spezifische Regierung. In Danny Angels Romanen war der Bösewicht - falls es einen gab - häufiger die menschliche Natur als die Vereinigten Staaten. Ein Aktivist war Danny nie gewesen.
    »Alle Schriftsteller sind Außenseiter«, hatte Danny Angel einmal gesagt. »Ich bin nach Toronto gezogen, weil ich gern Außenseiter bin.« Doch niemand glaubte ihm. Dass der weltberühmte Schriftsteller die Vereinigten Staaten ablehnte, war außerdem eine bessere Story.
    Danny fand, sein Umzug nach Kanada sei von der Presse hochgespielt, die vorgeblich politische Ebene einer rein privaten Entscheidung übertrieben dargestellt worden. Aber noch mehr störte ihn, dass man seine Romane trivialisiert hatte. Danny Angels Werk war nach jedem nur denkbaren autobiographischen Krümel durchstöbert worden; man hatte seine Romane seziert und zu Tode analysiert, um die in ihnen verborgenen virtuellen Memoiren aufzustöbern. Doch was hatte Danny anderes erwartet?
    In den Medien war das wahre Leben wichtiger als die Fiktion; die Teile eines Romans, die zumindest auf persönlicher Erfahrung beruhten, waren für die Öffentlichkeit interessanter als jene Teile, die sich der Autor »nur« ausgedacht hatte. War nicht in jedem Stück Literatur das, was dem Schriftsteller - oder einer ihm nahestehenden Person -
wirklich
widerfahren war, irgendwie authentischer, nachweislich wahrer als alles, was man sich ausdenken konnte? (Eine weitverbreitete Ansicht, obwohl der Beruf eines Schriftstellers gerade darin bestand, eine Geschichte auf wahrhaftige Weise von A bis Z zu erfinden - wie Dannys subversives Argument lautete, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, das
Erfundene
am Schreiben von Literatur zu verteidigen -, denn Geschichten aus dem wahren Leben waren nie so vollständig, so in sich geschlossen, wie es Romane sein konnten.)
    Doch wer waren Danny Angels Leser oder die jedes anderen Schriftstellers, die das
Erfundene
in der Literatur verteidigten? Studenten in Seminaren für kreatives Schreiben? Nicht mehr ganz junge Frauen in Buchclubs, denn waren nicht die meisten Mitglieder von Buchclubs nicht mehr ganz junge Frauen? Wer sonst interessierte sich mehr für Ausgedachtes als für das sogenannte wahre Leben? Offenbar nicht die Leute, die Danny Angel interviewten; die erste Frage, die man ihm immer stellte, lautete, was in diesem oder jenem Roman »echt« war. Beruhte die Hauptfigur auf einer
realen
Person? War die denkwürdigste (also die katastrophalste, niederschmetterndste) Begebenheit des Romans
wirklich
jemandem passiert, den der Autor kannte oder gekannt hatte?
    Aber hatte Danny es nicht geradezu auf diese Frage angelegt? Man nehme nur sein letztes Buch,
Baby auf der Straße;
was hatte Danny denn erwartet, wie die Medien damit umgehen würden? Mit diesem Roman, seinem siebten, hatte er vor ihrer Abreise aus Vermont begonnen. Im März 1987 hatte Danny das Manuskript fast fertig. Joe war Ende März gestorben. In Colorado war noch keine Schlammperiode gewesen. (»Scheiße, es
war fast
Schlammperiode«, sagte Ketchum später.)
    Es war Joes letztes Studienjahr in Boulder; er war gerade 22 geworden. Das Absurde war, dass
Baby auf der Straße
immer von dem Tod eines geliebten Einzelkindes gehandelt hatte. Doch in dem von Danny fast fertiggestellten Roman stirbt der Kleine noch im Windelalter - ein Zweijähriger, der auf der Straße überfahren wird, ganz ähnlich wie es dem kleinen Joe damals auf der Iowa Avenue
beinahe
widerfahren wäre. In dem unvollendeten Roman geht es darum, dass die Danny-Figur und die Katie-Figur, wie der Koch und Ketchum wohl gesagt hätten, an dem Tod des Kindes zerbrechen und

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