Letzte Nacht
reißt sie dabei fast nach hinten um. Manny bleibt in der Nähe, bereit sie aufzufangen – eine andere Art von Held.
«Sind Sie auf der Durchreise?», fragt er und zieht zwei Speisekarten aus dem Halter am Empfangspult, als wäre es ganz normal, dass das Restaurant völlig leer ist.
«So kann man’ s wohl nennen», sagt der Mann laut, als wäre er noch draußen im Sturm. «Eigentlich sollten wir längst zu Hause sein.»
«Sieht übel aus draußen», pflichtet Manny ihm bei, führt die beiden in den Speiseraum und setzt sie in eine Fensternische mit Blick auf ihren Wagen, einen neuen Lincoln. Als er sich vorbeugt, um ihnen die Speisekarten zu reichen, gibt es eine ohrenbetäubende Rückkopplung, wie das Jaulen eines fernen, spätnächtlichen Radiosenders, und Manny stellt fest, dass sie vom Hörgerät des Mannes ausgeht. Im Lampenlicht sehen die Hände des Mannes geschwollen aus, ein schwarzgoldener Freimaurerring schneidet ihm in den Finger. Die Frau steckt das ganze Gesicht in die Speisekarte, ein Auge dicht vor der Schrift. An den Handgelenken hat sie lila Druckstellen und eine fleckige, papierdünne Haut, genau wie seine Oma in ihrem letzten Jahr, und unwillkürlich fragt sich Manny, was der Mann wohl tun wird, wenn sie tot ist.
«Was für eine Suppe gibt es?», fragt der Mann.
Manny ändert seine Lautstärke. «Neuenglische Fischsuppe und Bayou‐Gumbo mit Meeresfrüchten.»
«Ich meine die Tagessuppe.»
«Haben wir heute leider nicht.»
«Hm», sagt der Mann, als wäre er reingelegt worden.
«Was?», fragt die Frau.
«Es gibt keine Tagessuppe.»
«Das ist aber schade.»
Manny versichert ihnen, dass gleich eine Serviererin kommt und ihnen heiße Cheddar Bay‐Brötchen bringt.
Genau genommen ist es Roz’ Bereich, aber die beiden haben eine Münze geworfen, und Jacquie hat verloren.
«Ich dachte, in Erinnerung an alte Zeiten will sie nochmal ran. Und außerdem kann sie das Geld besser gebrauchen als ich.»
«Ja, schönen Dank», sagt Jacquie. «Der sieht auch gerade nach einem großen Trinkgeld aus.»
Es mag für Jacquie kein großer Tisch sein, doch Manny muss das Verlangen unterdrücken, in ihrer Nähe zu bleiben, und zieht sich in die Küche zurück, wo sich Ty immer noch über den Old Car Trader beugt und Corvettes bewundert.
«Guck dir das mal an», sagt Ty und deutet auf ein Stingray‐Kabrio aus den sechziger Jahren, das fast doppelt so viel kostet wie das, was die Bank für das Haus seiner Großmutter raustun wollte.
«Wir haben zwei alte Leutchen da.»
«Hab schon gehört.»
Jacquie kommt durch die Schwingtür. «Zwei gegrillte Flundern, einmal Ofenkartoffel, einmal Reis.»
«Das ging aber schnell», sagt Manny.
«Sie haben Hunger. Um die Zeit gehen sie sonst schon bald schlafen.»
«Keine Flunder», sagt Ty und blättert um.
«Schellfisch?» Jacquie bleibt an der Kaffeekanne stehen.
«Tilapia.»
«Du willst, dass ich ihnen Tilapia verkaufe.»
«Kannst bloß verkaufen, was da ist.»
«Brauchst du Drinks?», fragt Manny.
«Hab ich.» Und schon ist sie wieder weg.
Manny würde ihr gern folgen und sich entschuldigen, zu den alten Leuten an den Tisch gehen und ihnen sagen, dass sie nicht immer so schlecht bestückt sind, als legte er Wert darauf, dass sie wiederkommen. Er muss sich damit begnügen, ihnen ihre Salate zu bringen, sucht die beiden besten aus und sortiert eine weiße Salatrippe aus.
Für alle Fälle wärmt er ein paar Extrabrötchen in der Mikrowelle auf.
Als Jacquie zurückkommt, warten alle auf ihre Bestellung. Sie geht den ganzen Weg bis zur Warmhalteplatte.
«Und?», muss Ty fragen.
«Dann eben Tilapia.»
«Gut gemacht.»
Die Küche kommt in Gang, Rich und Leron nehmen ihre Plätze ein. Bei einer so kleinen Bestellung kommen sie allein zurecht, und statt sie zu beaufsichtigen, geht Manny nach vorn und besetzt das Empfangspult, als würde er mit dem normalen abendlichen Ansturm rechnen. Draußen schneit es stetig, ununterbrochen. Die beiden Alten beugen sich über ihren Salat, der Frau fallen ein paar Salatstücke von der Gabel, und sie hebt alles auf und legt es wieder auf ihren Teller. Jacquie hat ihnen gerade die neuen Brötchen gebracht, als die Lampen sich verdunkeln und blinken, und alle, auch Manny, blicken auf.
Celebration von Kool & the Gang reißt mitten im Refrain ab. Die Lampen und Deckenleuchten, die Lichterkette am Aquarium und die beschirmte Leuchte am Empfangspult, alles flackert. Alle Lichter gehen gleichzeitig aus und danach wieder
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