Letzte Rache: Thriller (German Edition)
aber Carlyle war sich dunkel der Tatsache bewusst, dass er einen hohen Anteil seiner Einnahmen im Austausch für Schutz an seine Hauptlieferanten abtrat. »Ich bin einerseits freiberuflich, andererseits nicht«, hatte er Carlyle mal erzählt, »einerseits unabhängig, andererseits nicht. Im Grunde genommen lagern sie diesen Teil ihrer Unternehmungen an mich aus. Es ist wie bei allem anderen auch – wenn ich schneller und billiger bin und weniger Ärger mache, kriege ich den Job.«
Da Carlyle selbst ebenfalls pragmatisch war und seine Grenzen kannte, war er sich bewusst, dass sie viel miteinander gemeinsam hatten. Es gab viele Dinge an Dominic Silver, die er regelrecht schätzte. Im Lauf der Jahre hatte Dominic seine Lausbubenmanier abgelegt und war ernsthafter geworden. Er hatte am Queen Mary College einen Abschluss in Betriebswirtschaft und Unternehmensführung gemacht und sah mit seinem grau werdenden schulterlangen Haar und seiner randlosen Brille wie ein Schriftsteller oder Akademiker oder vielleicht der Keyboardspieler in einer Kuschelrockband wie Genesis aus. Für jemanden mit einem Nettovermögen von an die fünfzig Millionen pflegte Dominic einen sehr anspruchslosen Lebensstil. Er stand nicht auf Klunker und verhielt sich sehr unauffällig. Er nahm keine Drogen. Er rauchte nicht und trank nur selten Alkohol. Er ging regelmäßig ins Fitnesscenter und hielt sich in Form – obwohl er knapp einen Meter achtzig war, wog er kaum mehr als siebzig Kilo.
Kurz gesagt, ihre Beziehung war beständig und herzlich. Sie war nicht kompliziert, aber sie war auch nicht sehr transparent. Keiner von beiden hätte sie unbedingt aufbauen wollen, wenn sie nicht bereits bestanden hätte, aber sie konnten sowohl ihre Vorteile wie auch ihre Schattenseiten sehen. Natürlich konnte Carlyle nie gegen ihn ermitteln, selbst wenn er es gewollt hätte: Er wäre kompromittiert durch die Gefälligkeiten, die Dominic ihm in der Vergangenheit erwiesen hatte. Aber er war zuversichtlich, dass er in der Beziehung nicht allein stand: Seit Jahren ging das Gerücht, dass Silver weiter oben in der Nahrungskette – sowohl innerhalb von Scotland Yard als auch außerhalb – ernsthafte Beschützer hatte. Außerdem hatte er einen engen inneren Kreis von Beratern, zu dem Carlyle als Teil einer unausgesprochenen Gegenleistung für Dominics Hilfe, wann immer er sie brauchte, von Zeit zu Zeit hinzugezogen wurde.
Carlyle hatte ein äußerst zwiespältiges Gefühl angesichts ihrer Beziehung. Falls jemand beschloss, dies gegen ihn einzusetzen, wusste er, was das für seine berufliche und familiäre Zukunft bedeuten konnte. Das bereitete ihm ein gewisses Kopfzerbrechen, aber in Wirklichkeit verhielt es sich so, dass es zu spät war, um deshalb irgendetwas zu unternehmen.
Carlyle sah zu, wie Dominic an seinem Handy herumfummelte. Er fand schließlich den Filmausschnitt, den er suchte, und drückte auf die Abspieltaste. »Am Anfang ist eine Menge Scheiß drauf, aber es lohnt sich, auf das Kabinettstück zu warten.«
»Hmh-mhm.«
Dominic hielt ihm das Telefon hin. »Komm schon, sieh es dir an.«
Während er das Handy in Empfang nahm, sah Carlyle zu, wie Alice, gefolgt von Tom und Oliver, durch irgendein Fußballspiel rannte. Er drehte sich um und schaute auf den Videofilm, der auf dem winzigen Display des Handys ablief, ohne es genau in den Blick zu nehmen. Seiner Ansicht nach waren Handys für Telefongespräche gedacht. Seit wann mussten alle auf einmal ihre eigenen Videofilme machen? Er schaute wieder zu den Kindern hinüber, um sich zu überzeugen, dass sie sich nicht zu weit entfernten. »Was ist das?«, fragte er.
»Das ist ein Typ namens Jerome Sullivan.«
»Wer ist das?«
»Er ist – war – im gleichen Geschäft wie ich. Kein richtiger Konkurrent, aber ich bin ihm ein paar Mal begegnet.«
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Carlyle, der mittlerweile misstrauisch geworden war, weil es um geschäftliche Dinge ging.
»Er hat sich in den Kopf geschossen«, sagte Dominic amüsiert.
»Was?« Carlyle nahm das Handy unter die Lupe. »Er hat sich dabei gefilmt, wie er Selbstmord beging? Ich hätte nicht gedacht, dass Leute in deiner Branche zu Depressionen neigen.«
»Nicht ganz.« Dominic grinste. »Er hat einem Kumpel gegenüber eine Show abziehen wollen und nicht gemerkt, dass noch eine Patrone in der Kammer war.«
Carlyle beobachtete, wie Jerome sich die Pistole an den Kopf setzte. »Darwinismus in Aktion.«
»Das hat ihn allerdings nicht
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