Letzte Rache: Thriller (German Edition)
Alice heute Morgen zur Schule bringe?«, fragte Carlyle.
Helen drehte sich zu ihm um. »Nicht nötig.« Sie griff nach dem Kessel und goss sich noch mehr heißes Wasser in den Becher.
Er schaute sie aufmerksam an. Das musste ein Test sein. Er musste noch mehr Bereitschaft zeigen. »Es macht mir nichts aus«, fuhr er fort. »Dann hast du noch etwas Freizeit, bevor du zur Arbeit gehst.«
Helen nahm noch einen Schluck von ihrem Tee. »Ich habe gestern mit Alice darüber gesprochen, während du in deinen Ermittlungen unterwegs warst.« Ein Grinsen verzog ihren Mund. »Sie geht allein.«
»Was?« Panik blitzte in Carlyles Gehirn auf. Wie konnte seine Tochter in ihrem Alter allein durch London fahren? Es gab so viele Gefahren; all diese Wahnsinnigen und Perversen, die Ausschau hielten und nur auf eine Gelegenheit warteten, um sich an den Unschuldigen zu vergreifen. Ganz zu schweigen von diesen verrückten Lieferwagenlenkern, die es juckte, unvorsichtige Fußgänger über den Haufen zu fahren. Was zum Teufel dachte sich Helen dabei?
Seine Frau sah zu, wie der Ausdruck dieser Gefühle über sein Gesicht huschte, und musste an sich halten, damit ihr Grinsen nicht breiter wurde. »Keine Sorge, sie wird das schon hinkriegen.«
»Hinkriegen?«
»Ja. Alice ist, wie du vielleicht schon gemerkt hast, ein sehr vernünftiges Kind. Aber sie muss es ohnehin tun.«
Carlyle runzelte die Stirn. »Muss sie das?«
»Ja. Das Trimester ist fast vorbei. Nach dem Sommer muss sie allein gehen.«
»Wer sagt das?«
»Die Schule. Wir haben einen Brief dazu bekommen, erinnerst du dich nicht?«
Carlyle grunzte. Er erinnerte sich an verschiedene Briefe, aber keinen speziellen.
»Die Schule«, sagte Helen, »besteht darauf, dass alle Kinder in Alice’ Alter in der Lage sein müssen, allein in die Schule zu gehen. Der Direktor sagt, es gehöre zum Abnabelungsprozess, wenn sie heranwachsen.«
»Abnabelungsprozess?« Carlyle schniefte. Dieses Wort gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Ganz genau.« Helen legte ihm die Hand auf den Arm. »Du kannst nicht dein ganzes Leben ein paranoider Vater bleiben.«
Ach, das kann ich nicht?, dachte Carlyle. Dann pass mal auf …
Helen drückte sanft seinen Bizeps zusammen. »Sie muss irgendwann anfangen.«
»Ich weiß, ich weiß.« Carlyle fuhr mit den Daumen über seine Schläfen. Er konnte spüren, dass Kopfschmerzen im Anzug waren. Er brauchte wirklich was zum Essen. Ein Frühstück würde allerdings sein Problem nicht lösen. Viel schlimmer als die Gefahren der großen, bösen Stadt – von denen die meisten, wie er wusste, von den Medien erfunden und aufgebauscht waren – war die Erkenntnis, dass die goldenen Jahre zu Ende waren. Seine Tochter ließ ihn hinter sich.
Fast wie auf ein Stichwort kam ein Ruf aus der Diele. »Ich bin weg!«
Helen eilte aus der Küche und umarmte Alice. Carlyle folgte verlegen. Er lächelte seine Tochter an und versuchte den Knoten, der sich in seinem Bauch bildete, zu ignorieren. »Pass auf dich auf.«
»Ja, Dad.«
Er schaute sie von oben bis unten an. In ihrer Uniform sah sie jünger aus als in Jeans und T-Shirt. Er schluckte seine Ängste noch einmal hinunter. »Wirst du den Bus nehmen?«
Alice schlüpfte in ihre Jacke. »Ich hab noch viel Zeit, also gehe ich vielleicht zu Fuß. Ich könnte Sarah auf dem Weg abholen.«
Carlyle schaute Helen an.
»Eine von ihren Klassenkameradinnen«, erklärte seine Frau. »Sie wohnt in Hatton Garden.«
Carlyle wandte sich wieder an seine Tochter. »Aber du hast deine Oyster-Card bei dir?«, fragte er.
Sie seufzte theatralisch. »Ja.«
»Und dein Handy?«
Noch ein Seufzer, diesmal noch dramatischer. »Ja. Und ich schicke Mum eine SMS , wenn ich angekommen bin.«
Carlyle blickte Helen an, die zur Bestätigung nickte.
»Und du schickst mir eine?«, fragte er seine Frau.
»Ja, auf deinem Dienst-Handy. Auf diese Weise schaffst du es vielleicht, meine Nachricht zur Kenntnis zu nehmen.« Helen war nicht sonderlich beeindruckt davon, dass ihr Mann darauf bestanden hatte, zwei Telefone zu haben. Zusätzlich zu seinem dienstlichen Mobiltelefon hatte Carlyle immer sein privates billiges Prepaid-Handy dabei. Derzeit war es ein Sony Ericsson J132, das ihn nur einen Fünfer im Carphone Warehouse an der Long Acre gekostet hatte. Er hatte es vor zwei Wochen gekauft und würde es in zwei Monaten wieder eintauschen. In der Zwischenzeit hatten sehr wenige Leute die Nummer seines privaten Handys oder wussten auch nur, dass er eines hatte.
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