Letzte Rache: Thriller (German Edition)
oder »Wohlmeinende«, die sich nur im Elend anderer Menschen suhlen wollten. Sogar diese armen Teufel hatten nur minimales Interesse am Verschwinden von Jake Hagger gezeigt. Soweit der Inspector wusste, hatte es gar keine brauchbaren Hinweise gegeben. Carlyle, der den Touristen aus dem Weg ging und sich nach Möglichkeit im Schatten aufhielt, wusste, dass diese Plakate in einer Woche nicht mehr hängen würden.
Zwei Minuten nachdem er im Phoenix House angekommen war, fand er sich auf demselben orangefarbenen Ledersofa wieder, auf dem er während seines letzten Besuchs gesessen hatte. Diesmal war es schmutziger, hatte noch mehr Flecken und eine neue Kollektion von Brandflecken auf einer Lehne. Sam Laidlaw saß ihm gegenüber in einem Sessel und starrte beharrlich auf den Boden. Carlyle suchte nach neuen Lebenszeichen, aber Laidlaw sah immer noch wie ein Zombie aus. Abgesehen von einem gelegentlichen Schniefen gab sie keinen Ton von sich.
Amelia Jacobs war erheblich salonfähiger. Sie trug eine schwarze Jeans und ein graues langärmliges T-Shirt und schritt zwischen ihnen hin und her. Carlyle sagte nichts, während Amelia ihn böse anstarrte, ihn von oben bis unten musterte, als wäre er ein Freier, der ihn nicht hochkriegt. Schließlich fragte sie ihn: »Haben Sie mal mit Michael gesprochen?«
»Ich hab’s versucht.« Carlyle beugte sich vor und suchte den Blickkontakt. »Ich konnte ihn nicht finden.« Ich hab’s allerdings auch nicht wirklich ernsthaft versucht, dachte er. »Kanntet ihr einen Typen namens Jerome Sullivan?«
Laidlaw ließ nicht erkennen, ob sie seine Frage gehört hatte.
Jacobs runzelte die Stirn. »Nein. Warum? Hat er hiermit etwas zu tun?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Carlyle, »aber ich weiß, dass Michael sich in letzter Zeit mit ihm herumgetrieben hat.«
»Dann muss er ein echter Scheißkerl sein«, sagte Amelia barsch. »Haben Sie schon mit ihm geredet?«
»Er ist tot«, sagte Carlyle beiläufig.
»Großartig! Was werden Sie also jetzt noch machen?« Amelias Frage war durchaus berechtigt. Was er vor allem an ihr bewunderte, war ihre Entschlossenheit. Sie schien der einzige Mensch zu sein, der sich wirklich um den Jungen Sorgen machte. Selbst wenn Jake zurückkam, würde er direkt der Obhut des Jugendamts Camden unterstellt. Seine Mutter hatte ihre letzte Chance vergeigt. Es wäre ein Wunder – oder, besser gesagt, ein Skandal –, wenn sie ihr Kind je zurückbekäme. All das wusste Amelia schon, aber sie gab trotzdem nicht auf.
Carlyle zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht mein Fall.«
Amelia schnaubte. »Dem anderen Typen ist es schnurzegal.«
»Cutler?«
»Genau der. Ein Bilderbuch-Copper auf der Suche nach einer Gratisnummer.«
»Ich hab neulich abends mit ihm über den Fall gesprochen.«
Sie schaute skeptisch drein. »Und?«
»Und sie haben alles im Griff«, sagte Carlyle, um die Frage so gut zu parieren, wie er konnte.
»Klar.« Amelia sah aus, als wollte sie ihm eine Ohrfeige geben. Daraus konnte er ihr keinen Vorwurf machen.
»Ich bin überzeugt, dass sie …«, Carlyle korrigierte sich, »… dass wir ihn finden werden.« In Wirklichkeit war er gar nicht davon überzeugt.
Amelia Jacobs ballte die Hände zu Fäusten, und ihre Miene erstarrte beinahe. »Irgendjemand muss ein bisschen Interesse an diesem kleinen Jungen zeigen.«
Carlyle verzichtete auf den Blickkontakt und blickte stattdessen auf seine Schuhe.
»Sonst wirkt es so, als hätte der arme kleine Kerl nie existiert.«
»Ja.«
»Der Dreckskerl kann doch nicht einfach verschwunden sein.«
»Nein.«
»Es ist inzwischen Wochen her …« Ihre Stimme verlor sich.
Carlyle starrte weiterhin auf den Boden. »Ich weiß.« Und er wusste es. Er konnte die Augen schließen und ein ziemlich klares Bild in seinem Kopf malen. Aber das bedeutete nicht, dass er irgendwas daran ändern konnte.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, sah Carlyle zu, wie Helen aus dem Schlafzimmer stapfte, um sich eine Tasse grünen Tee zu machen. Nachdem er ihr Angebot, ihm einen Kaffee zu bringen, abgelehnt hatte, stand er auf, streckte sich und ging ins Badezimmer. Als er angezogen war, beschloss er, noch einen letzten Versöhnungsversuch zu unternehmen. Der Fernseher lief noch, aber Alice’ fünfzehn Minuten waren abgelaufen, und es war Zeit, zur Schule zu gehen. Er schlenderte in die Küche, wo Helen stand, von ihrem Tee nippte und aus dem Fenster schaute, wo sich ihr die Londoner Skyline bot.
»Was hältst du davon, wenn ich
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