Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
entstehenden Kosten zu sorgen hatte: Das Raffinement der Aufmachung sollte provozierend auf das junge, unklassifizierten Verhältnissen entstammende Ding wirken, der reichlich fließende Alkohol nicht nur die immer bereiten Lästerzungen lösen, damit nicht gespart würde mit eindeutig zweideutigen Witzchen und derb-zotigen Anekdötchen, wobei die Genossin sich scheinbar hinter die Nichte zu stellen beabsichtigte und entschieden darum zu bitten, doch tunlichst nicht in Gegenwart einer jungen ehrbaren Ehefrau solche lasziven Reden – Brecht hätte gesagt: Freche Fotzen – zu führen.
Als es dann bald soweit war, schickte die Genossin tags zuvor neben Blumenstrauß und Visitenkarte mit lieben Grüßen ein extravagantes Kleid aus geschenkten Privatbeständen, das Geneviève bezaubernd zu Gesicht stand.
Am nächsten Vormittag erhielt die junge Frau einen überaus zartfühlenden Brief ihres Mannes, den sie umgehend am selben Tag noch beantwortete. Da wäre sie am liebsten in Gedanken an ihn daheim geblieben, und sie vergoss einen Bach salziger Tränen. Pünktlich jedoch sollte der Wagen der Genossin eintreffen, um eine dezent geschminkte Geneviève abzuholen zum Dinner bei „Fritz“, wie auf der Einladungskarte gestanden hatte.
„Willi, heute kam ein Brief von Direktor Clausnitz“, bemerkte Janine so ganz nebenbei, während sich die Familie Widulle in Abwesenheit des Haushaltsvorstands zum Abendessen an den Küchentisch setzte.
Draußen ging ein sehr warmer Herbstabend zur Neige, und durch das weit offenstehende Fenster drang der süßlich-herbe und zugleich würzige Duft spät blühenden Jasmins.
In der Kruggasse wurde ein Brief von Direktor Clausnitz verlesen, aus dem hervorging, dass der kleine Willi zu den Besten der Schule gehörte, weshalb ihm eine dieser hervorragenden Auszeichnungen zuteil werde. Janine las vor: „Wilhelm Widulle hat die letzten beiden Klassen in allen Fächern mit der Note `Sehr gut´ absolviert, was insbesondere deshalb nicht hoch genug bewertet werden kann, da Wilhelm Widulle nicht zu den Schülern gehört, denen der zu bewältigende Unterrichtsstoff zufällt, sondern der ganz im Gegenteil mit enormem Fleiß und hartnäckiger Energie die gestellten Aufgaben bewältigt. Dabei stehen ihm allerdings eine starke Konzentrationsfähigkeit und ein zielgerichteter Wille förderlich zur Seite. Dem Charakteristikum in Bezug auf seine Lernqualitäten seien insbesondere noch seine menschlichen Eigenschaften hinzugefügt...“ Die allerdings überlas Janine, um fortzufahren: „Wilhelm Widulle, Sohn einer alten Arbeiterfamilie, übt durch sein vorbildliches Betragen, seine Ruhe und Zurückhaltung, seine stete Hilfsbereitschaft den Klassenkameraden gegenüber und nicht zuletzt durch seinen eingangs erwähnten Lerneifer einen günstigen und erzieherischen Einfluss auf die Klassendisziplin und den Ablauf des Unterrichts aus.“
Damit fuhr sie ihrem Jungen durch die widerborstigen Haare und war heftig erschrocken, als ihr kleiner Willi Reißaus nahm, auf sein Zimmer lief und nicht mehr mitbekam, wie seine Mutter sagte: „Was er bloß hat? Ist doch eine schöne Anerkennung!“ Sie zuckte die Achseln und fügte mit jetzt gedämpft und schwer klingender Stimme an den Rest der Familie gewandt, hinzu: „Morgen komm ich etwas später. Du brauchst dann nicht mit dem Essen zu warten, Ingelein, es wird sicher spät werden. Und um drei ist in Bernau die Beerdigung des jungen Wegmann. Alle Kollegen vom Kombinat werden mitgehen. Anschließend wird vom Friedhof aus ein Demonstrationszug in die Innenstadt stattfinden, wo wir gegen den ungenügenden Arbeitsschutz, die heruntergekommenen Werkshallen, die unter aller Sau befindlichen sanitären Einrichtungen und die allzu reichlich vorhandenen Sicherheitsbestimmungen – an die sich bloß kein Mensch hält, soll die Produktion nicht gegen Null sinken – protestieren, trotz Verbots von Seiten der Regierung und der Drohung mit dem Polizeiaufgebot.“
„Wann kommt Papa endlich wieder nach Hause?“
„Darüber reden wir später, Ingrid. Sag Gute Nacht.“
„Schlaf gut, Mutter, und träum schön“, sagte die Tochter, küsste und umarmte die Mutter.
„Schade, dass der kleine Willi ausgebüchst ist“, meinte Janine, „denn sonst bekäme er jetzt auch noch mit, was ich dir nun noch – unter Vorbehalt – sage: Ich rechne eigentlich damit, meinen großen Willi beim Begräbnis und der Demo wiederzusehen.“
„Ach, ist das schön!“ rief Ingrid, und
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