Letzter Gruss - Thriller
zeigte, hatte Jacob Recht.
Es dauerte sieben Minuten.
63
Es war bereits Nachmittag, als Malcolm und Sylvia in das Verhörzimmer geführt wurden, in dem Dessie und Jacob warteten.
Sylvia stieß einen kleinen entzückten Schrei aus, als sie ihren Bruder erblickte. Sie tauschten eine hastige Umarmung aus, bevor das Wachpersonal sie voneinander trennte.
Dessie hatte erwartet, wegen des Treffens nervös zu sein, aber ihr Zorn und ihre Zielstrebigkeit hatten alle derartigen Gefühle verdrängt. Sie war sich ganz sicher, dass die Geschwister Rudolph die Postkarten-Killer waren.
Jetzt kam es darauf an, ihnen den Teppich unter den Füßen wegzuziehen.
Sie beobachtete die jungen Leute genau, als sie ins Zimmer kamen, sie waren wirklich außergewöhnlich attraktiv. Malcolm war beinahe unnatürlich muskulös, Dessie nahm an, dass er jede Menge anabole Steroide geschluckt hatte. Sylvia war auffallend mager, hatte aber einen üppigen runden Busen. Silikon, zweifellos. Haut und Haare des Mannes waren wesentlich heller als die seiner Schwester, aber ihre Augen hatten die gleiche hellgraue Farbe und die gleichen langen Wimpern.
Beide waren offensichtlich hocherfreut über das Wiedersehen. Sie setzten sich dicht nebeneinander an den Tisch und wirkten heiter und gelöst.
Dessie stellte fest, dass die Geschwister sie nicht erkannten. Offenbar hatten sie nicht nach ihrem Foto gegoogelt, bevor sie ihr die Ansichtskarte in die Redaktion schickten.
Dessie und Jacob warteten in Ruhe ab, bis die Geschwister es sich bequem gemacht hatten. Sie stellten sich nicht vor, machten ein neutrales Gesicht und ergriffen keine Initiative.
Die Rudolphs lächelten artig und sahen sich um. Sie waren jetzt deutlich lebhafter als bei den Vernehmungen am Morgen. Dass die Fragesteller ausgetauscht worden waren, hatte ihnen Auftrieb gegeben.
»Ja, also«, sagte Sylvia, »worüber wollen wir denn jetzt sprechen?«
Dessie verzog keine Miene.
»Ich habe ein paar Fragen zu Ihrem Kunstinteresse«, sagte sie, und beide Geschwister strafften die Schultern und lächelten noch selbstsicherer.
»Schön«, sagte Sylvia. »Was möchten Sie wissen?«
»Wie Ihre Einstellung zum Thema Kunst und Realität ist«, sagte Dessie. »Ich denke vor allem an die Morde in Amsterdam und Berlin. Da haben Sie zwei reale Menschen nachgebildet. Nofretete und Vincent van Gogh.«
Sowohl Sylvia als auch Malcolm sahen sie mit großen Augen an. Der zufriedene Ausdruck auf ihren Gesichtern war einer interessierten Wachsamkeit gewichen.
»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte Dessie. »Es ist überhaupt nicht sicher, dass der ägyptischen Königin Nofretete das linke Auge fehlte. Das ist nur bei der Büste der Fall, die im Alten Museum in Berlin steht. Trotzdem haben Sie Karen und Billy die Augen ausgestochen, ohne zu wissen, ob das mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Aber Sie wollten natürlich das Kunstwerk nachbilden, nicht den Menschen, stimmt’s?«
Sylvia lachte auf.
»Interessanter Gedanke«, sagte sie, »wenn er nicht so verrückt wäre.«
»Wissen Sie, wie ich darauf gekommen bin?«, fragte Dessie. »Lindsay und Jeffrey, Sie erinnern sich? Die beiden Engländer, die Sie in Amsterdam getötet haben. Denen haben Sie das rechte Ohr abgetrennt, obwohl van Gogh sich das linke abschnitt. Aber auf dem Gemälde, seinem Selbstporträt, sitzt der Verband ja über dem rechten Ohr, weil er sein Spiegelbild gemalt hat. Sie haben sich also in beiden Fällen entschieden, das Kunstwerk nachzubilden, nicht die realen Personen.«
»Das hier führt doch zu nichts«, sagte Sylvia. »Ich dachte, Sie hätten Fragen an uns, die wir auch beantworten können.«
»Doch, die haben wir«, sagte Jacob und wandte sich an Malcolm. »Wo haben Sie eigentlich Ihre Maskerade versteckt?«
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Die Geschwister wirkten weiterhin kühl und beherrscht, aber ihre Überlegenheit war verschwunden. Dessie bemerkte, wie sie unbewusst näher zusammenrückten, als die Fragen schärfer wurden. Sie waren ein eng zusammengeschweißtes Team.
Malcolm stieß ein Lachen aus.
»Maskerade? Ich verstehe nicht …«
Dessie blickte Jacob an, seine Kiefermuskeln arbeiteten. Vermutlich musste er sich mit aller Gewalt beherrschen, um dem Kerl nicht den Schädel einzuschlagen.
»Die braune Perücke«, sagte Jacob. »Die Schirmmütze, die Sonnenbrille und der Mantel. Die Verkleidung, in die Sie schlüpfen, wenn Sie die Konten der Opfer leerräumen. Und die Sie getragen haben, als Sie Claudias Omega-Uhr zum Pfandleiher
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