Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
etwas angehoben hatte, aber noch weit von direktem Blickkontakt mit seinen Gesprächspartnern entfernt war. Gasperlmaier vermochte weder Trauer noch Schmerz in seinem Gesicht zu lesen, auch keine sonderlich große Überraschung, doch gleichzeitig wusste er, dass es so leicht nicht war, aus Gesichtern eindeutige Antworten auf Fragen herauszulesen, vor allem nicht, was seine eigene Fähigkeit dahingehend betraf. Seine Christine war da ein ganz anderes Kaliber, für sie war er – und waren auch ihre Kinder – ein offenes Buch, was das Lesen des Gesichtsausdrucks betraf. Möglicherweise war auch die Frau Doktor Kohlross wesentlich begabter in dieser Kunst als er, denn bevor sie ihre nächste Frage stellte, begannen ihre Augenbrauen schon wieder leicht, aber wahrnehmbar zu zucken. „Herr Naglreiter, wo genau haben Sie sich denn heute Nacht aufgehalten, und damit meine ich eher den zweiten Teil der Nacht?“
Stefan Naglreiter verstand nicht sofort oder heuchelte zumindest Verständnislosigkeit. „Ich?“, versuchte er Zeit zu gewinnen. „Was glauben Sie wohl, wo ich war?“
Die Augen der Frau Doktor Kohlross verdunkelten sich, sodass ihre scharfen Blicke wie Pfeile auf den übernächtigen Halbwaisen zu schießen schienen. „Herr Naglreiter, bitte!“, wurde ihre Stimme jetzt etwas lauter. „Meine Arbeitszeit kostet Geld, und abgesehen davon müssen wir so schnell wie möglich arbeiten, denn je länger sich eine Ermittlung hinzieht, desto schwieriger wird sie und desto unwahrscheinlicher ein Erfolg. Darf ich jetzt also um Auskunft bitten? Oder ist Ihnen eine Vorladung zum Bezirkskommando lieber?“
Mit einem solchen Ausbruch hatte Stefan Naglreiter nicht gerechnet, er nickte eingeschüchtert, begleitet von beschwichtigenden Handbewegungen. „Natürlich war ich auch im Bierzelt. Bis um drei, ungefähr. Dann bin ich mit dem …“ Unsicher unterbrach er sich und ließ einen kurzen Blick zwischen Gasperlmaier und der Frau Doktor hin und her gehen. „… heimgegangen“, fügte er wenig überzeugend hinzu.
„Ja natürlich. Aber in Wirklichkeit sind Sie mit jemandem ins Auto gestiegen – ob als Fahrer oder Beifahrer, lassen wir für den Augenblick dahingestellt – und haben einen Unfall verursacht und Fahrerflucht begangen. Darf ich davon ausgehen, dass ich im Recht bin?“
Die Frau Doktor schien von dem Burschen ebenso genervt wie gelangweilt zu sein. Der nickte nur ergeben und legte seine Hände übereinander auf die Tischplatte. „Wenn Sie eh schon alles wissen …“
Frau Doktor Kohlross setzte gleich nach: „Wissen Sie irgendetwas darüber, wo sich Ihr Vater gestern Abend aufgehalten hat, ob er mit Ihrer Mutter zusammen war, wo sich Ihre Mutter derzeit aufhält? Wo sich Ihre Schwester aufhält?“
Bevor die Frau Doktor Naglreiters Schwester erwähnt hatte, war dessen Reaktion lediglich auf ein Kopfschütteln beschränkt gewesen, während sein Augenkontakt wieder eher der Tischplatte als seinen Gesprächspartnern galt. Als von seiner Schwester die Rede war, hob er den Kopf und wollte antworten, wurde aber einer Antwort entbunden, da Schritte auf der Treppe hörbar wurden und gleich darauf die Tür aufging. Ein sehr hübsches, sehr junges und sehr blondes Mädchen trat ins Zimmer und blickte überrascht auf die Gruppe, die vor ihr saß. „Was ist denn hier los? Bist du schon wieder besoffen gefahren? Ist das Auto hin? Deines? Das vom Papa? Ist wer verletzt? Du bist so ein Idiot!“
Der Wortschwall, fand Gasperlmaier, ließ auf mehreres gleichzeitig schließen. Einmal war da die Reihenfolge: Nach Sachschaden wurde vor Personenschaden gefragt, ein Indiz dafür, wo die Prioritäten in dieser Familie lagen. Zum anderen war für Naglreiters schöne Schwester die Kombination Bruder-Kirtag-Polizei offenbar logisch einwandfrei mit alkoholisiertem Fahren und nachfolgendem Unfall mit Fahrerflucht verbunden, was wiederum recht weitreichende Schlüsse über einerseits die menschlichen Qualitäten des Bruders, andererseits aber auch über das Verhältnis der beiden zueinander zuließ.
Gasperlmaier konnte nicht umhin, sich nicht nur über die menschlichen Qualitäten des Naglreiter junior, sondern auch über die beeindruckend hervortretenden physischen Qualitäten seiner Schwester ein Urteil zu bilden. Der Kahlß Friedrich hatte nicht übertrieben: Das Dekolleté der jungen Naglreiter musste im Dirndl mehr als spektakulär ausfallen. So viel verriet auch der Umstand, dass sie jetzt nur Jeans und ein weißes T-shirt
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