Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
haben. Gasperlmaier begann sie im Geiste zu sortieren.
Einmal mochte die Bedeutung des Augenbrauenhebens sein, dass sich die Frau Doktor darüber wunderte, dass die Frau Naglreiter offenbar ein Liebesverhältnis unterhalten hatte, das ihren Kindern kein Geheimnis gewesen zu sein schien. Zum anderen machte sie sich wohl Gedanken darüber, was dahinterstecken mochte, dass Judith den Liebhaber als „Affen“ bezeichnete, was zumindest auf grundlegende Auffassungsdifferenzen zwischen Mutter und Tochter schließen ließ. Zum Dritten stellten sich natürlich Gasperlmaier wie offenbar auch der Frau Doktor einige weitere Fragen: Wer war der „Affe“? Wo war die Frau des Mordopfers wirklich? Hatte der Doktor Naglreiter vom Vorhandensein des Liebhabers ebenso gewusst?
Sogleich schoss auch die Frau Doktor Kohlross klar und messerscharf einige Fragen ab, wohl eher an Stefan als an Judith gerichtet, die es weiterhin vorzog, hinter dem Vorhang ihrer langen Haare zu wimmern, während die Frau Doktor nicht aufhörte, ihr über den Oberarm zu streichen. „Kennen Sie den Herrn, von dem Judith gerade gesprochen hat? Hat Ihr Vater von dem Verhältnis gewusst?“
Stefan nickte die Tischplatte an, ja, er bequemte sich sogar zu einer Antwort: „Der Herr, wie Sie ihn nennen, heißt Marcel Gaisrucker und ist der Paragleitlehrer meiner Mutter. Wir haben alle von dem Verhältnis gewusst. Meine Eltern haben in den letzten Jahren …“ Er brach ab, nicht ohne die resignierende Geste mit der Hand, die Gasperlmaier schon von ihm kannte, wiederholt zu haben.
Gasperlmaier riss es bei der Nennung des Namens Marcel Gaisrucker. Den Marcel, den kannte er, der war schon öfters mit seinem Sohn Christoph zu ihnen nach Hause gekommen. Nicht, dass Gasperlmaier diese Besuche besonders begrüßt hätte – seiner Ansicht nach war der Marcel ein Hallodri, der die Schulausbildung geschmissen hatte, häufig besoffen und manchmal eingeraucht war, wie der Christoph es nannte, und im Übrigen ständig hinter den Touristinnen her war, also alles in allem ein übler Einfluss auf seinen Sohn zu werden drohte. Seines Wissens war der Marcel wenig über zwanzig Jahre alt, etwa im Alter des Stefan Naglreiter. Gasperlmaier fand es an der Zeit, sich einzumischen: „Den Gaisrucker, den kenne ich. Ein wenig sympathischer Mensch.“
Stefan Naglreiter schnaubte. „Kann man sagen!“
Gasperlmaier setzte nach: „Er ist, ich meine, sehr jung, gegenüber …“
Nun schniefte Judith wieder laut auf: „Ja, glauben Sie denn, wir sind begeistert darüber, dass sich unsere Mutter von einem vögeln lässt, der ihr Sohn sein könnte? Würde Ihnen das gefallen, wenn Ihre Mutter einen fünfundzwanzig Jahre jüngeren Liebhaber hätte?“
Gasperlmaier war ein wenig unklar, ob er oder die Frau Doktor Kohlross angesprochen worden waren, fühlte aber wenig Motivation zu antworten, denn der Gedanke an seine Mutter ließ eine Nähe zum Begriff „Liebhaber“ in seinem Gehirn gar nicht aufkommen, sosehr er sich auch bemühte, durch verzweifeltes Verzwirbeln seiner Finger eine Verbindung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte herzustellen. Seine Mutter kannte er nur im Dirndl, mit einem um den Kopf gerollten Zopf, niemals hatte sie irgendetwas getan, gesagt oder getragen, das Gasperlmaier mit dem Begriff „Erotik“ auch nur im Entferntesten in Zusammenhang bringen konnte.
Auch die Frau Doktor Kohlross verzichtete auf eine Antwort und erhob sich stattdessen. „Dürfte ich mich, bevor wir gehen, noch schnell ein wenig umsehen? Ich kann das nur, wenn Sie einverstanden sind. Aber es könnte uns helfen.“
Judith reagierte nur, indem sie ausdruckslos den Kopf hob, Stefan schwang seinen rechten Arm weit aus und sagte: „Bitte!“
Die Frau Doktor Kohlross zog aus ihrer Handtasche einen kleinen Karton, der ganz dünne Gummihandschuhe enthielt, wie Gasperlmaier sie sonst nur bei den Wurstverkäuferinnen im Supermarkt sah. Ihm war allerdings nicht klar, wozu die den Wurstverkäuferinnen dienen sollten – schließlich griffen sie ja alles mit diesen Handschuhen an, und so würden da dran genauso viele Keime haften wie sonst an ihren nackten Fingern. Schließlich hatten ja die Fernsehköche in den Kochshows auch überall ihre Finger dran und drin, bis auf einen, den Gasperlmaier mit schwarzen Handschuhen werken gesehen hatte, und das hatte mehr als unappetitlich ausgesehen. Bei der Frau Doktor war ihm allerdings schon klar, warum sie die Handschuhe überzog: Weder wollte sie Spuren
Weitere Kostenlose Bücher