Letzter Mann im Turm - Roman
konzentrierte sich auf die Schritte, die das Zimmer von einem Ende zum anderen durchquerten, dann innehielten (ein kurzes Verharren am Fenster), ehe sie wieder umdrehten.
«Es ist nicht Diabetes, Mr Pinto.»
«Was dann?»
Mrs Pinto kannte die Menschen besser. In ihrem Alter ist der Körper zu einem Automaten geworden, der sich in vorhersehbaren Zuckungen rührt, in kurzen, ewig gleichen Bewegungen, aber der Geist ist immer noch zu exzentrischen Sprüngen fähig. Aus dem Schrittmuster erriet sie die Wahrheit über den Mann über ihnen.
«Die Abende müssen furchtbar sein.»
Seit so vielen Monaten schon allein, ohne eine Hand, die man im Dunkeln halten konnte.
Mrs Pinto drehte sich im Bett um, damit sie nicht mehr zuhören musste.
«Er ist nicht der Einzige, der herumwandert», sagte ihr Mann. «Kannst du es hören? Irgendwas tut sich im Haus.»
Die Lieblingsgottheit seiner Frau hing an einem Haken in Masterjis Schlafzimmer, ein im Dunkeln leuchtendes Bild von Balaji, das der Statue im Tirupati-Tempel nachempfunden war. Eine halb automatische Waschmaschine stand in der Nähe des Götterbildes, eine Baumwollmatratze für Gäste, zusammengerollt wie ein rosa gestreifter Regenwurm, lag auf einem kleinen Stuhl neben dem Gerät. Durch ein quadratisches Gitterfenster konnte man das schwarze Kreuz im Garten sehen.
An der Wand befand sich eine Einbauschranktür neben der anderen, aber es waren Schrankimitate, die den Anschein größeren Wohlstands erwecken wollten; hinter den Türen waren sechs grüne
almirahs
aus Metall, Schränke, in denen Purnima alles, von ihrem Hochzeitsschmuck bis zu ihren Haushaltsbüchern, aufbewahrt hatte. Masterji durfte nur zusehen, wie sie in einem dicken Schlüsselbund herumsuchte, den richtigen Schlüssel fand, einen
almirah
öffnete und das Gesuchte herausnahm. Er wusste, dass ein Bord für ihre Saris bestimmt war, eines für Saris, in denensie eine Menge Münzen und Geldscheine versteckt hatte, eines für Saris, in die Scheckhefte eingewickelt waren, eines für Unterlagen, die die Ausbildung ihrer Kinder betrafen, eines für ihre Finanzunterlagen. Einen Monat nach ihrem Tod hatte Gaurav angerufen, um sich nach ihrem Diamantkollier zu erkundigen, das sie bei Vummidi, dem berühmten Juwelier in Chennai gekauft hatte; Sonal war darauf bedacht, dass der Schmuck ihrer Schwiegermutter nicht verloren ging. Masterji sagte, er erinnere sich nicht an eine derartige Kette, versprach aber, in den Schränken nachzusehen. Seit diesem Telefonat, da war er sich sicher, war sein Sohn betont kühl zu ihm.
Masterji öffnete einen Schrank und starrte den
almirah
darin an, in dem er sein Spiegelbild erblickte. Ein schmaler Ganzkörperspiegel war im Korpus des
almirah
angebracht worden. Hunderte roter Punkte (ziegelrot, lehmrot und blutrot) bedeckten seine obere Hälfte; seine Frau pflegte sich stets eines dieser Bindis auf die Stirn zu drücken, ehe sie das Haus verließ. Masterji fand, der Spiegel ließ ihn wie einen Mann mit Hautausschlag aussehen.
In der Küche klopfte der alte Kalender wieder gegen die Wand; abermals hatte er das Gefühl, als wäre seine Frau anwesend und schnitte Zwiebeln.
Ein Schlüssel steckte im Schloss des
almirahs,
er drehte ihn um und stellte fest, dass die Bretter leer waren bis auf eines, das mit alten Zeitungen ausgelegt und durch Kampfermottenkugeln geschützt war und auf dem lediglich ein alter Sari lag.
Ihr Hochzeitssari.
Er schloss die Augen und legte die Hände vorsichtig auf den Sari mit dem Goldrand. Er atmete die kampfergeschwängerte Luft ein. Er dachte an die Zeit, als er Purnima nicht vor ihren Brüdern in Suratkal beschützt hatte. Der alte Kalender schlug heftiger gegen die Wand, klopf klopf klopf, und er war sich sicher, dass Purnima zu ihm sprach. Klopf klopf klopf. Sie wollte nichts überdie Vergangenheit hören. Sie wollte von der jungen Frau nebenan hören. Der Journalistin.
Er atmete noch etwas kampfergeschwängerte Luft ein, um sich zu stärken, und gestand. Auch mit einundsechzig glimmt die Lust in den alten Knochen, Purnima. Die junge Frau nebenan brachte ihn durcheinander. Er glaubte, seine Frau würde zornig werden, aber sie befand sich nun jenseits allen Zorns. Der Kalender klopfte abermals, sie teilte ihm mit, er solle sich nicht aufregen. Sie begriff nun, dass ein Mann nicht für sein Verlangen verantwortlich ist, das ihm aus einer anderen Welt zuwächst, und ihr war klar, dass er auch für andere Frauen so empfunden haben musste –
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