Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
empfand sie jene unbeschreibliche Vorfreude: Heute abend würde sie fliegen.
»Hey«, erklang eine freundliche Stimme in gedehntem Tonfall.
Sie drehte sich um und sah Roland Bell im Türrahmen.
»Morgen«, sagte sie.
Er hastete zu ihr. »Wenn Sie die Vorhänge öffnen, machen Sie sich besser klein wie ein Baby.« Er zog die Vorhänge zu.
»Ach, ich dachte, Detective Rhyme wird eine Falle zuschnappen lassen. Die ihn garantiert fangen wird.«
»Nun, es heißt, daß Lincoln Rhyme immer recht hat. Aber ich würde diesem speziellen Mörder nicht bis zur nächsten Ecke trauen. Haben Sie gut geschlafen?«
»Nein«, sagte sie. »Sie?«
»Ich habe zwei Stunden im Sitzen gedöst«, gab Bell zur Antwort, während er mit scharfem Blick zwischen den Vorhängen nach draußen spähte. »Aber ich brauche auch nicht viel Schlaf. Werde an den meisten Tagen voller Elan wach. So ist das, wenn man kleine Kinder hat. Also, lassen Sie den Vorhang einfach geschlossen. Denken Sie dran, das hier ist New York, und was würde wohl aus meiner Karriere werden, wenn irgend so ein Gangster hier rumballern und Sie ins Jenseits befördern würde? Ich wäre eine Woche lang das Gespött des ganzen Reviers. Wie wäre es jetzt mit einer Tasse Kaffee?«
Da war ein Dutzend bauchiger Wolken, die sich an diesem Sonntagmorgen in den Fenstern des alten Hauses spiegelten.
Da war ein Hauch Regen.
Da war die Ehefrau im Bademantel am Fenster, ihr bleiches Gesicht eingerahmt von dunklem, lockigem Haar, das vom Schlaf zerzaust war.
Und da war Stephen Kall, nur einen Block entfernt vom sicheren Haus des Justizdepartments an der 35. Straße. Er verschmolz mit dem Schatten eines Wasserturms auf dem Dach eines alten Apartmenthauses und beobachtete durch sein Leica-Fernglas, wie die Wolkenschatten über ihren kleinen Körper glitten.
Er wußte, daß die Fensterscheibe aus kugelsicherem Glas war und mit Sicherheit seinen ersten Schuß abhalten würde. Er könnte innerhalb von vier Sekunden eine zweite Runde abfeuern, aber das zerberstende Glas würde ihr einen solchen Schreck einjagen, daß sie unwillkürlich vom Fenster zurückweichen würde, selbst wenn ihr nicht bewußt wäre, daß auf sie geschossen wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es ihm nicht gelingen, ihr eine tödliche Wunde zuzufügen.
Sir, ich werde bei meinem ursprünglichen Plan bleiben, Sir.
Ein Mann trat neben sie, und der Vorhang fiel wieder zu. Dann spähte der Mann durch den Spalt, die Dächer absuchend, wo ein Schütze sich logischerweise positionieren würde. Er sah effizient und gefährlich aus. Stephen prägte sich sein Gesicht ein.
Dann duckte er sich hinter den Wasserturm, bevor er entdeckt werden konnte.
Der Trick der Polizei - er vermutete, daß es die Idee von Lincoln, dem Wurm, war -, so zu tun, als seien die Ehefrau und der Freund in das Polizeigebäude an der West Side verlegt worden, hatte ihn nicht länger als zehn Minuten getäuscht. Nachdem er die Ehefrau und Ron über die angezapfte Leitung belauscht hatte, hatte er einfach ein Hacker-Telefonprogramm gestartet, das er von der warez newsgroup im Internet heruntergeladen hatte. Es hatte die Nummer aufgespürt, von der aus die Ehefrau telefoniert hatte. Sie begann mit der Vorwahl 212. Das bedeutete Manhattan.
Was er als nächstes getan hatte, schien ziemlich abseitig.
Aber wie werden Siege errungen, Soldat?
Indem man jede Möglichkeit in Betracht zog, so unwahrscheinlich sie auch erscheinen mag, Sir.
Er loggte sich im Internet in ein Telefonverzeichnis ein, das anhand einer Nummer Adresse und Namen des Inhabers ermittelte. Das funktionierte nicht bei Geheimnummern, und Stephen war sich sicher, daß niemand in der Regierung so dumm sein konnte, für ein sicheres Haus eine normale Telefonnummer /u benutzen.
Er hatte sich geirrt.
Der Name James L. Johnson, 35. Straße Ost, Nummer 258 er
schien auf dem Schirm.
Unmöglich...
Dann rief er in der FBI-Zentrale von Manhattan an und bat darum, mit Mr. Johnson verbunden zu werden. »Das wäre James Johnson.«
»Bleiben Sie bitte dran, ich stelle durch.«
»Ach, Verzeihung«, hatte Stephen unterbrochen, »in welcher Abteilung arbeitet er noch gleich?«
»In der Justizabteilung. Büro für die Verwaltung von Bundeseinrichtungen.«
Stephen legte auf, während der Anruf weitergeleitet wurde.
Sobald er wußte, daß die Ehefrau und der Freund in einem sicheren Haus in der 35. Straße waren, hatte er einige Behördenpläne des Wohnblocks gestohlen, um seinen
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