Leuchtende Sonne weites Land - Roman
Jacqueline.
»Wieso, wo war er denn?«, wunderte sich Sally.
»In Melbourne«, erwiderte Jacqueline nur.
»Dann können Sie aber von Glück sagen, dass Sie ihn wiederhaben. Obwohl Sie wahrscheinlich nicht viel Gelegenheit haben werden, auf einer Farm so schicke Sachen zu tragen.«
»Stimmt, aber ich bin trotzdem froh. Ich habe gar nicht damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen.«
Jacqueline rechnete auch nicht damit, Henry jemals wiederzusehen. Inzwischen hatte sie die Papiere, die er ihr geschickt hatte, unterzeichnet, und Ben hatte alles zur Post gebracht. Einer Scheidung stand nichts mehr im Wege. Die Einzelheiten waren ihr völlig egal. Dennoch konnte sie noch immer kaum glauben, dass dieser Abschnitt ihres Lebens abgeschlossen war und sie bald wieder ledig sein würde. Als ob es die zehn Jahre Ehe mit Henry nie gegeben hätte. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Schnell griff siezu ihrem Glas und nahm einen kräftigen Schluck Bier. Ein doppelter Wodka wäre ihr in diesem Moment allerdings lieber gewesen.
»Und? Wie gefällt Ihnen unsere kleine Stadt?«, fragte Sally.
»Nun … äh … sie … äh …« Jacqueline sah Vera Hilfe suchend an.
»Es … ist ziemlich ruhig hier.« Mehr fiel Vera nicht ein. »Aber ich habe mich auch noch nicht richtig umgeschaut«, fügte sie taktvoll hinzu.
»Für Leute aus der Großstadt muss Hawker so was wie ein Kulturschock sein«, bemerkte Sally trocken.
»Na ja, es ist schon anders als in New York«, sagte Vera. »Ich weiß offen gestanden nicht, wie man ohne all die Annehmlichkeiten und Dienstleistungen leben kann, die man in einer Großstadt für selbstverständlich hält.«
Sally blickte verdutzt drein. »Hier gibt’s vielleicht nicht so viele Möglichkeiten wie in der Stadt, aber Dienstleistungsbetriebe haben wir hier auch. Hawker war im 19. Jahrhundert eine aufstrebende Eisenbahnstadt. Der Ghan ist bis 1956 hier durchgefahren. Dann haben sie die Bahnlinie weiter nach Westen verlegt.«
»Und das hat vermutlich das Ende bedeutet, nicht wahr?«, sagte Jacqueline. »So ist es doch meistens, wenn eine Stadt von einer wichtigen Verkehrsverbindung abgeschnitten wird.«
Sally nahm den vollen Aschenbecher vom Tisch und stellte ihn auf den Nebentisch. »Hawker ist keineswegs am Ende. Hier ist eine Menge los, ob ihr’s glaubt oder nicht, und wir haben alles, was man zum Leben braucht.«
Jacqueline und Vera machten zweifelnde Gesichter.
»Habt ihr die Schule und das Krankenhaus gesehen?«
Vera schüttelte den Kopf. Außer einer Kirche, dem Rathaus und dem Hotel war ihr nichts Größeres aufgefallen.
»Wir haben eine richtig gute Schule, die von den Kindern aus der ganzen Umgebung besucht wird, und wir haben ein Krankenhaus mit zehn Betten.«
»Ach!« Vera versuchte, erstaunt zu wirken.
»Abgesehen von Rachel Roberts gibt es noch einen fest angestellten Arzt, der in Vollzeit arbeitet, sowie einen weiteren, der bei Bedarf kommt.«
Vera dachte an die überfüllten Schulen und Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten und hätte fast mitleidig gelächelt.
»Was kann man denn in Hawker alles unternehmen? Ich meine, außer in die Kneipe zu gehen«, wollte Jacqueline wissen.
»Es gibt etliche Vereine hier.« Sally schaute zu Cyril hinrüber, der sein Hemd zurechtzog, nachdem Davo Richards versucht hatte, es ihm über den Kopf zu zerren. »Cyril ist Mitglied im Fotoklub, der 1956 gegründet wurde. Hat er es nicht erwähnt?«
»Nein.« Jacqueline und Vera schüttelten den Kopf.
»Ich wünschte, jemand würde ihn jetzt fotografieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ihn je wieder so geschniegelt zu Gesicht bekommen werden, es sei denn, irgendein armes Ding erbarmt sich und heiratet ihn.« Sally streifte die zwei Frauen an ihrem Tisch mit einem flüchtigen Blick und schüttelte dann den Kopf, wie um eine verrückte Idee von sich zu schieben. »Schätze, ihr seid aus Mitleid mit Cyril und Tom in die Stadt gefahren, hab ich Recht?«
Die zwei wussten nicht, was sie darauf erwidern sollten.
Sally lachte. »Ihr braucht nicht zu antworten. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr so dumm seid, einen der beiden zu heiraten.« Dem konnten Jacqueline und Vera nur beipflichten.
»Es gibt hier im Hotel einen Verein, der unter anderem Bingo- und Quizabende drüben im Gemeindesaal veranstaltet«, fuhr Sally fort. »Das ist immer sehr lustig, ihr könnt gern mal vorbeischauen, wenn ihr wollt. Mein Mann organisiert das Ganze.« Sie warf einen
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