Leuchtendes Land
riss sich die Kleider vom Leib und stieg in die Wanne, um sich von all diesem Schmutz zu reinigen – dem Schmutz, der Clem hieß.
Sie blieb so lange in der Wanne liegen, bis Nanny sie drängte, wieder herauszukommen. Anschließend hüllte sie Thora in Handtücher. »Sie werden sich erkälten, Madam. Sie zittern ja am ganzen Körper! Ziehen Sie den Morgenmantel an. Legen Sie sich ins Bett, damit Ihnen wieder warm wird. Ich mache Ihnen derweil eine schöne Tasse Schokolade.«
Thora versuchte zu schlafen, um das Grauen zu verdrängen, doch es gelang ihr nicht. Sie träumte, sie sei wieder in York, wo alle Leute sie verhöhnten und mit dem Finger auf sie zeigten. Sie lief halb nackt durch die Straßen und suchte verzweifelt nach ihren Kleidern, um sich damit zu bedecken. Ihr Vater schrie sie an, während ihre Mutter sich abwandte, weil sie sich für ihre Tochter schämte. Jocelyn Russell stand im Eingang des Hotels, hatte die Arme um Clem gelegt und beachtete Thora überhaupt nicht. Sie rannte auf die beiden zu und bat darum, ihr Zuflucht zu gewähren, doch Clem und Jocelyn konnten sie weder hören noch sehen. Ihre Schwestern bewarfen sie mit Steinen, und niemand hörte ihre Schreie.
»Was ist los, Madam?«, fragte Nanny und schüttelte sie.
»Psst, Sie haben schlecht geträumt. Lydia fürchtet sich.«
»Wer ist Lydia?«, fragte Thora.
»Ihr kleines Mädchen«, antwortete Nanny entsetzt.
Thora umklammerte ihre Hand. »Sie ist nicht mein Kind, Nanny«, flüsterte sie. »Sie denken, ich wüsste es nicht. Aber ich weiß es doch. Mein Baby ist gestorben. Jetzt fällt es mir wieder ein. Vorher hatte ich alles durcheinandergebracht, aber nun kann ich mich erinnern. Mein Baby ist gestorben, und sie haben mir dieses gegeben.«
»Oh nein, Madam, das ist nicht wahr.«
»Doch, doch. Du musst mir zuhören, Nanny, bevor sie kommen. Gib ihnen dieses kleine Mädchen zurück, bevor sie es herausfinden. Beeil dich.«
»Guter Gott, Madam, wem sollte ich es denn geben?«
»Ihrer Mutter natürlich. Sie war dort, ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen. Sehr zerbrechlich. Sie sehnt sich nach ihrem Baby, und ich habe es gestohlen. Das war grausam, Nanny, grausam.«
»Gut, ich werde es tun. Ich finde sie, Madam. Jetzt müssen Sie aber schlafen. Mr. Price wird bald kommen und sich um alles kümmern.«
Thora setzte sich ruckartig im Bett auf. »Nein, sag ihm um Himmels willen nichts davon. Er darf es nicht erfahren.«
»Ich bringe Ihnen heiße Milch.« Nanny fachte das Feuer an und hantierte ungeduldig mit dem Topf, goss einen Schuß Brandy in die Milch und eilte wieder zu ihrer Herrin.
Dann nahm sie Lydia aus dem Bett und rannte ins Hotel auf der Suche nach Miss Devane. Sie konnte mit niemand anderem über diese Angelegenheit sprechen. Leider war Miss Devane für zwei Tage verreist. Die arme Netta spielte mit dem Gedanken, einen Arzt zu rufen, wusste aber nicht, ob sie das Recht dazu hatte. Wäre es um Lydia gegangen, hätte sie sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt. Doch im Falle von Mrs. Price würde das die Sache womöglich nur noch schlimmer machen.
»Ich kann nur hoffen, dass sie im Bett bleibt, bis Mr. Price heimkommt.« Sie setzte sich das Kind auf die Hüfte und marschierte grimmig zum Cottage zurück.
Wie so oft unterlag Thora heftigen Stimmungsschwankungen, und ihre Furcht verwandelte sich in Zorn.
»Wieso verstecke ich mich hier? Nicht ich habe etwas Schlechtes getan, sondern er. Er ist schuld an meinen nervösen Zuständen. Das lasse ich mir nicht länger bieten.«
Sie durchwühlte die Schränke nach ihren farbenfrohsten Kleidungsstücken, fügte farblich unpassende Tücher und einen Schal hinzu und band sich die Haare mit schreiend bunten Bändern zusammen. Dann beschmierte sie sich Wangen und Mund mit Lippenrot, das sie sonst nur ganz sparsam verwendete.
»So waren die Frauen im Zug gekleidet und geschminkt. Clem mag es, wenn Frauen sich zur Schau stellen.« Zu ihrer Enttäuschung fehlten ihrer Garderobe die leuchtenden Purpur- und Rottöne, die diese Damen mit Vorliebe trugen, doch sie tat ihr Bestes, um aufzufallen. Sie würde ihm schon zeigen, dass sie ebenso attraktiv war wie diese Frauenzimmer.
»Warum starrst du mich so an?«, fragte sie Nanny.
»Ach, nichts, Madam. Möchten Sie jetzt zu Mittag essen?«
»Ja, bitte. Ich nehme Rührei und ein Glas Wein.«
»Ein Glas Wein?«, fragte Nanny mit aufgerissenen Augen.
»Du hast doch gehört, was ich gesagt habe. Oder bist du taub?«
»Nein, Madam.«
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