Leuchtendes Land
Begegnung mit Clem hatte sie dermaßen erschüttert, dass sie von neuem darüber nachdachte. Warum fühlte sie sich so schuldig? Warum kam sie sich fehl am Platz vor? Was ging es Clem Price an, wo sie nun lebte? Gar nichts. Lillians angeborener Kampfgeist erwachte, und ihr wurde bewusst, dass sie gegen ihre Scham anging. Sie schämte sich des mageren Mädchens, das sie einmal gewesen war, schämte sich, dass sie sich von einem Nichtsnutz, der auf einer hoffnungslos kärglichen Farm lebte, hatte heiraten und schwängern lassen. Robert konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie früher gelebt hatte, doch bei Clem Price sah es anders aus. Er kannte die Frau, die ihm eines ihrer Babys überlassen hatte.
Wo war überhaupt Thora Price? Wiederholt ließ Lillian ihre Blicke durch den Saal schweifen. Sie hatte Angst, Thora zu begegnen. Denn das eigentliche Problem war nicht Clem Price, sondern Thora …
»Mein Gott«, flüsterte sie, »es wäre furchtbar, sie hier zu treffen. Dieser Snob. Sie würde mich schneiden, wenn sie mich sähe. Hoffentlich hat sie nie erfahren, dass man ihr mein Baby gegeben hat.«
Lillian beurteilte die Bedeutung von Mutterliebe nach ihren eigenen Maßstäben. Caroline war für sie der wichtigste Mensch auf der Welt. Sie liebte dieses Kind verzweifelt und betrauerte noch immer den Verlust ihrer zweiten Tochter. Doch die Umstände hatten sie zu dieser Entscheidung gezwungen, und sie sagte sich immer wieder, dass sie zum Besten ihrer Zwillinge getroffen worden und daher richtig gewesen war.
Am Ende des Saals sah sie Clem Price mit einigen Männern reden. Thora hatte sich weder auf der Tanzfläche blicken lassen, noch stand sie jetzt bei ihm. Lillian vermutete, dass er seine Frau nicht in die Stadt mitgenommen hatte. Dafür sprach auch, dass er so ausgiebig mit anderen Damen tanzte. Lillian fiel ein Stein vom Herzen.
Sie beschloss, ihren Eltern von diesem Ball zu schreiben und in ihrem Brief zu erwähnen, dass sie sogar mit Clem Price aus Lancoorie getanzt habe. Sie würden schwer beeindruckt sein.
Als die Musik wieder einsetzte und niemand sie aufforderte, machte sie sich auf die Suche nach Robert. Er stand schmollend draußen und rauchte eine Zigarre.
»Du lieber Himmel, Robert! Ich habe dich überall gesucht.«
»Ich wüsste nicht, weshalb. Du scheinst ja großen Gefallen daran zu finden, dich zur Schau zu stellen.«
»Wieso? Weil ich mit Henery getanzt habe? Das meinst du doch nicht ernst. Ich hatte schreckliche Angst.«
»Ich spreche nicht nur von Henery. Ich habe gesehen, wie du bei diesem ordinären Ringelreihen die Beine geworfen hast.«
»So nicht, mein Lieber. Du hast mich allein gelassen. Als mich ein Herr zum Tanz aufforderte, hatte ich keine Ausrede.«
Er zuckte die Achseln. »Ich fand es sehr schäbig von Henery, dass er uns mit diesen unbedeutenden Menschen an einen Tisch gesetzt hat.«
»Er hat uns doch erklärt, dass er mit seinen Kollegen an der Ehrentafel sitzen musste.«
»Lord Kengally ist nicht einer von Henerys Kollegen, sondern
mein
Freund.«
»Das macht doch nichts, Liebster. Du hättest doch sicher nicht da oben auf diesem Podium sitzen und dich zur Schau stellen wollen. Das hast du nicht nötig.«
Lillian gelang es, ihn wieder in den Saal zu lotsen und ihn zu überreden, mit ihr den Pride of Erin zu tanzen, doch nach der Hälfte des Tanzes beklagte er sich, dass seine Schuhe zwickten, und er verließ die Tanzfläche.
»Diese Musiker spielen wie die letzten Menschen. Gott weiß, woher sie die haben. Ich kriege Kopfschmerzen von dem Lärm. Ich glaube nicht, dass ich es hier noch lange aushalte.«
Lillian war fassungslos. Dies war ihr erster großer Ball, und noch immer war sie wie betäubt von all der Pracht. Er konnte doch nicht von ihr verlangen, dass sie schon wieder gingen!
»Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«
»Nein. Wo ist Henery? Wir können nicht gehen, ohne uns von ihm zu verabschieden.«
Glücklicherweise war Henery in der Menge untergetaucht.
»Im Foyer gibt es Erfrischungen«, sagte sie. »Soll ich dir einen Brandy holen? Gegen deine Kopfschmerzen.«
»Aus der Bar für die Herren? Wo denkst du hin? Ich gehe selbst. Henery steckt vermutlich auch dort.«
Sie schaute ihm nach. Er sah nicht so aus, als würden ihn die Füße schmerzen. Wenigstens war es ihr gelungen, den Aufbruch hinauszuzögern. Lillian schaute sich im Saal um, bewunderte die herrlichen Abendkleider und hielt gleichzeitig Ausschau nach Thora Price. Sollte sie auftauchen,
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