Leuchtendes Land
darüber hinwegkommen.
»Vielleicht wäre es am besten, wenn ich der Sache ein Ende bereiten würde«, schluchzte sie. »Ich könnte mich erschießen. Es würde ohnehin niemanden interessieren.«
Mit einer dramatischen Geste drückte sie den Lauf des Revolvers gegen ihre Brust, schaute noch einmal in den Spiegel und entdeckte dort Jocelyns lachendes Gesicht. Zumindest hielt sie die Frau im Spiegel für Jocelyn. Ehrlich gesagt konnte sie sich an ihre Züge gar nicht mehr erinnern, doch das Gesicht kam ihr sehr vertraut vor. Es war ein Gesicht aus York.
»Nein, das wird dir nicht gelingen!«, schrie sie. »Willst du mich etwa auf diese Weise loswerden? Frauen wie dich kenne ich. Du glaubst, du kannst ihn für dich behalten, wenn du mich erst aus dem Weg geschafft hast.«
»Wen behalten?«, fragte der Spiegel.
Es fiel ihr schwer, seinen Namen auszusprechen. Sie nannte ihn so selten beim Namen. Mit einem nostalgischen Gefühl, wie man es empfindet, wenn ein altbekanntes Lied erklingt, erinnerte sie sich daran, dass sie ihn irgendwann vor langer Zeit einmal geliebt hatte. Wann, wusste sie nicht mehr genau.
»Clem Price«, antwortete sie entschlossen, »meinen Mann.«
»Das war einmal«, fuhr sie der Spiegel an. »Jetzt gehört er mir.«
Thora legte die Waffe nieder und betrachtete die Frau. Was hatte Clem nur dazu getrieben? Er war ein guter Mensch. Das hatte sie gleich am ersten Tag gemerkt, als er für sie eingetreten war und gefragt hatte, ob sie ihn wirklich heiraten wolle. Dieser Tag hatte sich wie ein Brandzeichen in ihre Seele gefressen. Ihre Eltern draußen vor der Tür, eifrig darauf bedacht, sie loszuwerden. Ihre Schwestern – sie lauschten. Und dann Clem, schüchtern, der die Situation nicht ganz durchschaute. Niemand verstand sie, weil sie es niemandem erklären konnte. Darüber konnte sie einfach nicht sprechen.
»Clem hat es versucht«, sagte sie. »Er hat versucht, mir zu helfen. Er baut das Haus am Meer, weil es weit weg ist von York. Damit will er mich glücklich machen.«
»Du bist eine bedauernswerte Närrin, Thora Carty. Das warst du immer.«
Wieder einmal fragte sie sich, wie sich Clem von einem netten Farmer, der sich nie um Kleinstadtklatsch gekümmert hatte, in einen Kompagnon der Huren hatte verwandeln können. Dann fiel es ihr ein. Jocelyn! Für Thora waren York und seine Bewohner die Wurzel allen Übels.
Jocelyn Russell stammte aus York. Sie hatte Thoras Ehemann verführt, ebenso wie Matt Spencer Thora verführt hatte.
»Du bist an allem schuld«, sagte sie. Endlich hatte sie einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. Endlich wusste sie, wem sie die Schuld an allem geben konnte. Sie würde nicht zulassen, dass man Clem aus der Gesellschaft ausstieß, ihm das Gleiche antat, was sie erlitten hatte. Er war nur vom rechten Weg abgekommen. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn verstand. Er war von dieser Frau verführt und in die Höhle des Lasters gelockt worden, ohne dass ihn jemand eines Besseren belehrt hätte. Doch Thora würde ihn erretten! Diese Aufgabe war ihr von Gott dem Herrn übertragen worden.
»Wir werden nicht zurückblicken«, sagte sie. »Wir schließen mit der Vergangenheit ab und ziehen in unser Haus am Meer.«
»Dein Haus?«, fragte die Frau aus dem Spiegel. »Du vergisst da etwas. Du sitzt in diesem schäbigen Zimmer, während ich mit ihm auf dem Ball tanze. Du bedeutest ihm nichts mehr.«
Thora schlug sich die Hände vor den Mund. Es stimmte. Sie saß hier und machte sich zur Närrin. Suchte Entschuldigungen. Träumte in den Tag hinein, während er sich in aller Öffentlichkeit mit seiner Hure amüsierte.
»Ich sagte es doch schon: Du bist dumm, Thora Carty. Dieses Haus am Meer gehört nicht dir, sondern mir.«
»Nein«, wimmerte Thora, »bitte nicht. Tu mir das nicht an, Jocelyn.«
»Warum denn nicht? Du hast Clem nie etwas gegeben. Hast den einzigen Menschen verstoßen, der dich wirklich liebte. Ich weiß es. Er hat es mir selbst gesagt.«
»Das Haus. Du würdest doch nicht unser Haus betreten?«, flehte Thora.
»Versuch doch, mich davon abzuhalten.«
Jetzt war der Spiegel leer. Thora konnte durch den Tränenschleier nicht einmal ihr eigenes Gesicht erkennen.
Sie blieb eine Weile reglos sitzen. Machte sich Sorgen. Erinnerte sich. Wer war Jocelyn Russell überhaupt? Ein Niemand. Eine billige Hure aus York. Jeder wusste, was für eine Art Frau sie war. Und sie, Thora Carty, war die älteste Tochter des Arztes, entstammte der angesehensten Familie des
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