Lewis CS - Narnia 3
neben sich zu erkennen. Dann kam ihm ein noch viel schrecklicherer Gedanke, und er stieß laut hervor: „Du bist - du bist doch wohl nicht tot, oder? O bitte - bitte geh weg. Was habe ich dir denn angetan?“
Wieder spürte er den warmen Atem an der Hand und im Gesicht. „Da!“ sagte der unsichtbare Begleiter. „Dies ist nicht der Atem eines Gespensts. Sag mir, was dich bedrückt.“
Der warme Atem machte Shasta wieder ein klein wenig Mut; so erklärte er dem unsichtbaren Begleiter, daß er seinen richtigen Vater und seine richtige Mutter nie gekannt habe und wie streng ihn der Fischer erzogen hatte. Und dann erzählte er die Geschichte seiner Flucht, wie die Löwen sie gejagt hatten und wie sie um ihr Leben geschwommen waren; er sprach von all den Gefahren in Tashbaan, von der Nacht zwischen den Gräbern und von dem Heulen der Ungeheuer aus der Wüste. Er redete von der Hitze und dem Durst auf auf ihrem Ritt durch die Wüste und wie sie kurz vor dem Ziel noch einmal ein Löwe verfolgt und Aravis verwundet hatte. Er klagte auch, wie lange er schon nichts mehr gegessen hatte. Doch immer wieder kam er auf die Löwen zurück.
„Findest du nicht auch, daß es schrecklich ist, so vielen Löwen zu begegnen?“ wollte Shasta wissen.
„Da war nur ein Löwe“, sagte die Stimme.
„Wie kommst du denn darauf? Ich habe dir doch gerade gesagt, daß es in dieser ersten Nacht mindestens zwei Löwen waren und …“
„Es war nur einer, aber er war sehr flink.“
„Woher weißt du das?“
„Ich war der Löwe.“ Und als Shasta nach Luft japste und nichts mehr sagte, fuhr die Stimme fort. „Ich war der Löwe, der dich zwang, dich mit Aravis zusammenzutun. Ich war die Katze, die dir bei den Stätten der Toten Trost spendete. Ich war der Löwe, der dir die Schakale vom Leib hielt, als du schliefst. Ich war der Löwe, der den Pferden in ihrem Entsetzen neue Kraft verlieh, damit ihr rechtzeitig bei König Lune ankamt. Und ich war der Löwe, der das Boot anschob, in dem du als kleines Kind und dem Tode nahe lagst, bis es am Strand ankam, wo noch um Mitternacht ein Mann wachte, um dich in Empfang zu nehmen.“
„Dann warst du es, der Aravis verwundete?“
„Ja, das war ich.“
„Aber warum nur?“
„Kind“, sagte die Stimme. „Ich erzähle dir deine Geschichte, nicht die ihre . Ich erzähle jedem nur seine eigene Geschichte.“
„Wer bist du?“ fragte Shasta.
„Ich bin ich“, sagte die Stimme. Sie klang so voll und tief, daß die Erde erbebte. Und noch einmal „Ich bin ich“, laut und klar und froh. Und dann ein drittes Mal „Ich bin ich“, so leise, daß man es kaum hören konnte, und doch schien es von überallher zu kommen, so als stamme es von den raschelnden Blättern.
Shasta hatte keine Angst mehr, die Stimme könne einem Wesen gehören, das vorhatte, ihn zu verspeisen. Es war auch keine Gespensterstimme. Doch ein neues, nie gekanntes Beben überkam ihn. Aber gleichzeitig fühlte er sich glücklich.
Der schwarze Nebel wurde grau und ganz allmählich weiß. Dies mußte schon einige Zeit zuvor begonnen haben, aber solange Shasta mit dem Wesen gesprochen hatte, hatte er auf nichts anderes mehr geachtet. Jetzt begann das Weiß, das ihn umgab, zu funkeln. Er mußte blinzeln. Irgendwo vor sich hörte er Vögel singen. Endlich war die Nacht vorüber. Jetzt sah er deutlich die Mähne, die Ohren und den Kopf seines Pferdes. Von links fiel ein gelber Schimmer darauf. Das mußte wohl die Sonne sein.
Shasta wandte sich um und sah, daß neben ihm ein Löwe daherschritt, der das Pferd überragte. Das Pferd schien jedoch keine Angst vor ihm zu haben, oder vielleicht sah es ihn auch gar nicht. Es war der Löwe, der das Licht ausstrahlte. So etwas Schreckliches und gleichzeitig Schönes hat keiner je gesehen.
Glücklicherweise hatte Shasta nie die Geschichten über den entsetzlichen narnianischen Dämon in der Gestalt eines Löwen gehört, die man sich in Tashbaan erzählte. Und natürlich kannte er auch keine von den wahren Geschichten über Aslan, den großen Löwen, Sohn des Herrschers jenseits des Meeres, König über alle Könige Narnias. Doch nach einem einzigen Blick auf das Gesicht des Löwen glitt Shasta aus dem Sattel und warf sich zu seinen Füßen nieder. Er konnte nichts sagen, und er wußte auch, daß er gar nichts zu sagen brauchte.
Der König aller Könige beugte sich zu ihm herunter. Die Mähne umhüllte ihn und gab ihm ein Gefühl zeitloser Geborgenheit. Dann berührte ihn die Löwenzunge an der Stirn. Shasta
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