Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
Vom Netzwerk:
eine riesige Truhe stehen gehabt, darin
verwahrt hunderte Liebesbriefe von verschiedenen Männern neben verblichenen Tanzkärtchen,
gepressten Blumen, Nekrologen und Stapeln von Kartengrüßen mit weißroten
Bommeln, wie sie zur Feier des Frühlingsanfangs verschickt werden.
    Eine
alte, rostrote Puderdose mit flaumigem Quast, der als Deckel obenauf saß und,
wenn man ihn abhob, nach altem Mehl roch (das Gebilde sah aus wie ein
miniaturisierter Puffhocker aus der Zeit Toulouse-Lautrecs), Schildpattfächer
und Korallenkette, eine bestickte Wäschetasche, das sind die
Hinterlassenschaften der Tante, die ich viele Jahre, nachdem sie gestorben
war, einmal in die Hand nahm. Es hieß, ein liebestoller Mann habe sich wegen
ihr umgebracht.
    Ich
weiß nicht, weshalb der kindliche Manichäer in mir so streng unterschied. Lilo,
die ja auf einer ähnlichen Klaviatur des Weiblichen spielte, durfte alles tun,
was bei uns zu Hause verpönt war. Tante Zweta erschien mir wie ein Zerrbild des
geliebten Neverle, und darum entsetzte sie mich. Außerdem war sie alt. Und für
alte Frauen galten andere Gesetze. Hier galten die Gesetze der schwäbischen
Großmutter und ihrer elf Geschwister, die, ohne dass man an ihrer Kleidung
etwas Wesentliches hätte ändern müssen, auf einem Tafelbild des achtzehnten
Jahrhunderts hätten verewigt werden können.
    Wie
ehrwürdige Lutheraner sahen sie aus, alle schwarz gekleidet, alle hochgeknöpft.
Ihre Köpfe ruhten auf weißen, gestärkten Kragen, außer im Gesicht und an den
Händen zeigten sie niemals Haut. Die Frauen waren überaus reinlich und
schminkten sich nicht, sie rochen ein bisschen nach Seife und nach höchstens
einem Tropfen Kölnisch Wasser. Ausnahmslos trugen sie das Haar zum Knoten gebunden.
Es erscheint mir bis heute als das einzig richtige Erscheinungsbild einer alten
Frau. Ich bin darauf geprägt wie eine von Konrad Lorenz handaufgezogene
Graugans auf ihren Futtermeister.
    Dann
gab es noch Tante Mila. Eine gänzlich andere Natur. Groß, breit, bäuerlich,
von gutmütigem Wesen, wie man auf den ersten Blick sah. Sie war nicht
geschminkt und hatte eine Schürze um, stand meistens in der Küche, schwitzte
und kochte, trug Teller auf und Teller ab. Von den anderen Schwestern wurde
ihre Bereitwilligkeit, als Arbeitstier zu dienen, gern missbraucht.
    Ich
weiß nicht mehr, wie lange ich in Sofia ausharren musste. Drei Tage? Fünf Tage?
Länger? Die Sofia-Zeit dehnte sich ins Unendliche. Man unternahm Ausflüge mit
mir ins Vitoscha-Gebirge, schleppte mich in die Frauenabteilung eines
labyrinthischen türkischen Bades, das in eine dampfende Riesenhöhle mündete,
wo's gluckerte und tropfte und überall nackte Frauen hockten, sich die
Schmutzwürstchen von ihren Häuten reibend, unter der Aufsicht von korpulenten
Aufseherinnen, die prinzipiell keine Antwort gaben, wenn man von ihnen etwas
erbat. Das Schwingen der Bastwische, das Klatschen der Tücher, die Stimmen der
Frauen, alles klang überscharf aus dem Wassernebel.
    Am
meisten fürchtete ich die Nacht. Nachts schliefen die Großeltern Kopf an Kopf
in einer Ecke des Wohnzimmers, in zwei Kojen, die im rechten Winkel zueinander
standen, die beiden Wände über ihnen voller Ikonen. Mir wurde das Bett auf dem
Sofa bereitet, im anderen Teil des Wohnzimmers. Nachts wuchs die Fremdheit ins
Ungeheure, man hatte mich mit wildfremden Leuten zusammengesperrt. Das bisschen
an Sympathie, das sich tagsüber vielleicht gebildet haben mochte, nachts wurde
es widerlegt. Ich war verdammt zum Selbsthören und zur Geruchswehr. Von drüben
her schnarchte es, ich lag reglos und still und hatte zwei Fingerrücken an die
Nase gepresst, um den Geruch von drüben abzuwehren. Der Atem, wie er über die
Fingerrücken hinging, machte ein ziehendes Geräusch. Jeder Schnarchlaut jagte
Gedanken empor. Drei Eigenatmer im Zimmer. Was atmete in mir so drangvoll und
laut?
    Damals
hatte sich die Altersform des Großelternpaares noch nicht voll ausgeprägt.
    Es
war noch nicht passiert.
    Der
Vorher-Nachher-Effekt war deutlich. Nachher hatte der Großvater seinen Jähzorn
abgelegt. Er hatte sich zum Sonderling verkapselt, die Großmutter alle Scheu
verloren und endgültig das Sagen übernommen. Sie zahlte ihm alles heim, was er
ihr in Jugendjahren angetan haben mochte. Als sein Ertauben voranschritt,
sprach sie absichtlich leiser, damit er immer größere Mühe hatte, sie zu
verstehen.
    Den
alten Streit zwischen Ikonodulen und Ikonoklasten hatte die Großmutter zur Zeit
jener

Weitere Kostenlose Bücher