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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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schrecklichen Nächte schon für sich entschieden. Obwohl der Großvater
Ikonen hasste, hingen sie über seinem Kopf, seinem Bauch, seinen Beinen. Er musste
unter einem heiligen Elija schlafen, von dem Farbstücke weggeplatzt waren, weil
die Ikone im Feuer gelegen hatte. Ein Lehrer in Pasardschik hatte zu Demonstrationszwecken
ganze Stapel von Ikonen verbrannt. Der im goldenen Wagen zum Himmel auffahrende
Elija, dessen abgeworfener Mantel zur Erde herabsegelt, konnte von Tante Mila
gerettet werden, wenigstens zum Teil, und seither musste der Großvater seinen
Kopf Nacht für Nacht unter dem halb verkohlten Himmelfahrer zur Ruhe betten.
    Die
Ikone gibt es noch. Sie hängt jetzt im engen Flur unserer Cousine Atanasia.
Ursprünglich gewiss ein schönes Exemplar, ist sie an den Rändern kohlschwarz,
das Gesicht des Heiligen, sein Nimbus, die Hinterbacken der Pferde, der Wagen,
der wolkige Himmel sind mit schwarzbraunen Hitzeflecken besät. Nur Elijas
blauer Mantel ist prachtvoll erhalten, mit seinem rosafarbenen, golddurchwirkten
Pelzbesatz fliegt das gute Stück zur Erde herab, einer Gruppe staunender
Zeugen vor die Füße.
    Und
noch eine Ikone im Flur der Cousine kam mir bekannt vor. Sie mag, als es den
darunter schlafenden Großvater noch gab, in etwa über seinen Knien gehangen
haben. Ein Segenskreuz auf braunem Grund. Der leidende Jesus sieht darauf
weniger leidend aus als üblich, seine Füße ruhen auf einem bequemen Brettchen,
die Löcher in Händen und Füßen, aus denen das Blut in dünnen Fäden läuft, sind
nur angedeutet. Rechts und links der Hände, in den Ecken des Querbalkens,
befinden sich Sonne und Mond und sehen mit gutmütigen, runden Augen, die eher
zu einem Pfannkuchen passen als zu den erhabenen Gestirnen, auf das Haupt des
Erlösers. Zu seinen Füßen liegt eine mittelalterliche Stadt, gemalt in
heiteren Farben, darunter türmt sich ein wellenförmiger Fels, in dem lauter
Totenköpfe mit aufgerissenen Mundhöhlungen schlummern. Mundhöhle auf, Mundhöhle
zu.
    Eine
Gespensternacht wurde meiner Schwester beschert, als sie Jahre später auf
demselben Sofa schlief. Die Schwester war damals siebzehn und nun ihrerseits
zum ersten Mal auf Bulgarienfahrt. Die Großeltern wirkten schon verfallen. Sie
zirkulierten leidvoll, ein kleines Knochenbündel um ein großes Knochenbündel,
in ihren Zimmern. Es war inzwischen geschehen.
    Die
Mundhöhle des Großvaters stand nachts offen. Er schnarchte. Was eines Nachts
die Großmutter dazu trieb, das Licht anzuknipsen und sich auf seine Brust zu
setzen. Während er um Atem ringend erwachte, fuchtelte sie mit dem Zeigefinger
vor seinen Augen herum und zischte auf ihn ein. Ein Inbild des Schreckens.
Während unserer Fahrt erzählte meine Schwester Rumen davon. Der lachte, weil er
als kindlicher Sofaschläfer ähnliche Szenen erlebt hatte. Was hatte es mit dem
geheimnisvollen Gezisch auf sich? Die zaundürre Großmutter, ihre Haare gelöst,
wie ein Alp auf der Brust des Großvaters hockend, habe
sich bloß vergewissern wollen, ob er noch lebe.
    Tagsüber,
wenn der Nachtspuk vertrieben war, fasste ich zum Großvater ein wenig
Vertrauen. Er wollte nichts von mir und zerrte mich nirgendwohin. Allerdings
kam mir seine Beschäftigung mit den Kaninchen und Tauben ziemlich enttäuschend
vor. Damals wusste ich natürlich nichts von Tolstoi und seinen Ideen vom
einfachen Leben. Hätte ich sie verstehen können, wären mir die Bemühungen des
Großvaters, solche Verhältnisse auf seinem Balkon herzustellen, noch viel
absurder erschienen. Ein handtuchschmaler Balkon, der über Eck um die beiden
Zimmer lief, von dem man auf die sechsspurige Autobahn hinuntersah, gegenüber
auf einen scheußlichen Wohnblock und etwas schräghin auf einen struppigen Park
mit niederen Gehölzen. Auf dem Balkon war es so laut, dass man sich nicht unterhalten
konnte. Mit dem schwerhörigen Großvater, der eigentlich das beste Deutsch von
allen Verwandten sprach, wenn er denn sprach, sowieso nicht.
    Auf
dem Balkon am Boulevard Lenin sehnte ich mich nach unserem Garten in Degerloch.
Er erschien mir riesengroß, ein Gelände der Freiheit und des Abenteuers, das Auslaufgebiet
für Katze, Hund und Kind. Auch fremde Hunde waren willkommen. Besonders die
Hunde, die mit den Freunden unserer Eltern zu Besuch kamen, waren Persönlichkeiten
mit bizarren Eigenheiten, die man so schnell nicht vergaß. Aber Tauben und
Kaninchen? Mir blieb unbegreiflich, warum sich ein alter Mann mit so faden Geschöpfen
abgab, auch

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