Lewitscharoff, Sibylle
wenn es ein anziehendes Bild war, wie die Tauben dem Großvater ihre
Huld bezeugten, indem sie ihm auf die Schultern, auf Kopf und Hände flogen, er
dann wie ein Friedensmann die Arme reckte, weit über die Betoneinfassung seines
abscheulichen Balkons hinaus - als lade er den Himmel zu einem Fest, oder nein,
umgekehrt: als lade er den Himmel ein, ihm unter die Arme zu greifen und ihn
mitsamt seinen Tauben zu entführen.
Nach
einigen Tagen kamen Lilo und ihre Tochter mich abholen. Wir fuhren ans Meer.
Varna
Nach Varna ist es nicht weit.
Bevor die Stadt in Sicht kommt, stehen auf
der staubigen Lastwagenroute die Prostituierten. Es ist brühwarm.
Schwitzwetter. Die Frauen sind zum Erbarmen. Nie habe ich so hässliche, so
elende Prostituierte gesehen, ihre Leiber in knallfarbenes Plastik geschnürt,
an den Füßen tragen sie Stiefel. Es verdingen sich Frauen fast jeden Alters,
sie stehen vor den müllübersäten Böschungen und grinsen die Fahrer verzweifelt
an. Irrsinnige Hoffnung, sich für einen winzigen Betrag mit einem Mann hinters
Gebüsch verziehen zu dürfen oder zu ihm in die Fahrerkabine zu klettern und
auf den nächsten Parkplatz zu fahren. Die Qualen der Hölle, wie Dante sie
ausgemalt hat, scheinen mir plötzlich harmlos, es sind poetische Qualen, Feuer,
die nicht wirklich brennen, Schwären, die für den poetischen Genuss eitern.
Hier, im Sonnenglast, kommt alles verschärft zum Ausdruck, das große Widrige
wie das kleine Widrige, Schweiß, Sperma, Urin, die Abszesse, das Blut,
Schreie, Schläge, Juckreiz, Fliegen, zerbrochene Flaschen, Plastikdreck,
Brennesseln, Getreidespelzen, die sich in die Haut bohren. Das Schicksal der
bulgarischen Landstraßenhuren ist ebenso grausam, wie es das Schicksal der
Leprösen über viele Jahrhunderte hinweg war. Doch weit und breit kein
Christusfolger in Sicht, der ihnen die schmerzenden Füße salbte oder wenigstens
eine von ihnen erlöste.
Die
Huren, die Zankoff unserem Vater in die Praxis schickte, führten ein
vergleichsweise nobles Leben. Obwohl er gut an ihnen verdiente, scheint unser
Vater nicht fähig gewesen zu sein, seine eingefleischte Verachtung gegenüber
käuflichen Frauen zu überwinden. Wie mir lange nach seinem Tod eine ehemalige
Praxisgehilfin anvertraute, wurde sie von ihm zornig angefahren, weil sie einer
dieser Patientinnen in den Mantel geholfen hatte, einer schwer erkrankten
zumal. Auf Anhieb empfand ich diese Geschichte als wahr. Während das meiste, das
sonst über ihn im Umlauf ist, unseren Vater ins Geheimnisvolle, Genialische,
Unverstandene entrückt, wird hier schnörkellos von einer Reaktion erzählt und
von sonst nichts. Kein Grund, an der Berichterstatterin zu zweifeln; sie hat
einen gutmütigen Charakter und war ihm elf Jahre treu ergeben.
Varna
sieht besser aus als Schumen, das zeigt sich schon beim Hineinfahren. Immerhin,
den Hauptboulevard säumen Palmen. Um ihre struppigen Wedel, die träge nach
Nordost schwingen, ist so eine Meeresahnung. Aber für eine Stadt, die am Wasser
liegt, eine sehr alte Stadt sogar, ist sie bitter enttäuschend. Nicht einmal
ein schwacher Abglanz der berühmten französischen oder italienischen
Meerstädte. Wo sich der Blick auftut in eine Gegend, die ein bisschen Charakter
zu haben verspricht, stehen Großblöcke herum, brütend in ihrer stupiden
Allmacht, und der sehnsuchtsvolle Blick gleitet zurück zu den gerupften Palmen,
weil sich nichts Besseres bietet.
Wir
hatten damit gerechnet, leicht Zimmer zu finden, es ist ja noch keine
Ferienzeit. Aber nein, wir blitzen überall ab. Klar, in dem Monsterblock, dem
größten Hotel der Stadt, sind Zimmer frei.
Die
Eingangshalle erschiene einem immer noch leer, selbst wenn zwanzig Busladungen
voller Gäste gleichzeitig hereinströmten. Mit ihrem rhombengemusterten Teppichboden
(grünlich, gräulich, auberginefarben, ein dicker Rhombus trägt jeweils zwei
kleine Rhomben als zickige Krönchen zu Häupten) wirkt sie wie das
Aufmarschgelände zu einer monumentalen Fußpilzhölle. Das einsame Personal an
dem kilometerlangen Empfangstresen ist schwer zu erreichen. Wird einen
überhaupt jemand hören, wenn man die Stimme zu einer schüchternen Frage erhebt?
Alles macht einen muffigen, abgewirtschafteten Eindruck. Vor allem riecht's.
Es riecht durchdringend nach Reinigungsmitteln, Reinigungsschlämmen, die, wie
ich mir vorstelle, jeden Morgen aus Eimern über diesen Teppichboden gekippt
werden, dann liegen die Pilzbüschel in seifig schmierigem Morast und
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