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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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schadhafte Stelle ausgebessert. Der Vater soll
tief beeindruckt gewesen sein und beschlossen haben, in Tübingen weiterzustudieren.
    In
der Mutter seiner künftigen Frau hatte er alsbald einen ähnlich fürsorglichen
Menschen gefunden.
    Ob
der Vater unsere Mutter überhaupt nur wegen der Großmutter geheiratet hat?
frage ich meine Schwester.
    Wie
kommst du bloß auf solche Schnapsideen?
    Nach
einer Weile, in der sie mit schnellen Kopfwendungen kreuz und quer in die
Gegend geschaut hat, gibt sie nach. Immerhin mag es bei seinen Heiratsabsichten
geholfen haben. Für ausgehungerte junge Männer während und nach dem Krieg muss
sie eine ideale Schwiegermutter gewesen sein, geschickt und großherzig, wie
sie war.
    Deutlich
wie selten sehe ich die Großmutter vor mir. Das hochgesteckte graue Haar. Ein
schwarzes Kleid mit stoffbezogenen Knöpfen, darauf der durchbrochene weiße Kragen,
in der Mitte von einer Brosche zusammengehalten.
    Sie
hat überhaupt alles zusammengehalten.
    Meine
Schwester und ich sind aber schon zu lang, um auf ihrem Schoß Platz zu finden.
Die Großmutter will uns daran gewöhnen, dass der Vater weg ist. Euer Vater ist
in den Himmel aufgestiegen. Im Himmel hat er es gut.
    Ich
habe vergessen, wie sie diesen Aufstieg begründet hat. Schrecklähmung. In der
Verstörung zieht sich alles zusammen, nichts dringt herein. Da kann kommen wer
will, da kann gesagt werden was auch immer. Als großmuttergeprägtes Kind
gehorchte ich automatisch, empfing automatisch den Trost ihrer Worte, ließ
ihre sanftmütigen Handflächen tun, was sie immer taten, atmete den reinen
Geruch ein, den ich normalerweise liebte. Trotzdem, bei mir zog der Himmel.
Nicht sofort, aber im Lauf der kommenden Tage und Monate. Meine Schwester war
schon zu alt für solche Geschichten. Sie starrte konzentriert zu Boden.
    Wobei
die Großmutter mit einem nicht gerechnet hatte: den Vater im Himmel zu wissen
und nicht als verwesenden Haufen im Grab war zwar beruhigend, hatte aber den
Nachteil, dass ich mich beobachtet fühlte. Das ging so lange gut, als die
Großmutter am Leben war. Sie war die Himmelsgarantin, die mit Gesang und
Gebetbuch das Unheimliche in Schach hielt. Sie wusste, an welcher Stelle Moses
im Himmel saß, wo die Apostel, wo Jesus. Unser Vater saß etwas weiter entfernt
und befaßte sich mit Jesus. Er war ja neu im Himmel und musste warten und
lernen. Wie lange dieser Wartezustand dauern würde, wusste die Großmutter
nicht zu sagen, bei seinem Eifer und den guten Anlagen wohl nicht allzulang.
Nach der Wartezeit würde er frei sein und käme in der Not, uns zu beschützen.
    Die
Großmutter starb wenige Monate nach dem Vater. Ab da keine Himmelsmittlerin
mehr weit und breit. Ich las die Odyssee, da
ging es im Himmel anders zu, las Bücher, in denen der Himmel nur noch Farbe war
oder von Bombenwerfern durchkreuzt wurde. Meine Schwester hatte ihren ersten
Freund und kehrte sich ab. Mir blieb der Dackel. Seither haben im tiefsten
Kummer nur Tiere die Kraft, mich abzulenken.
    Kein
ruhiger, gütiger Vater schlummerte im Himmel über Degerloch und erwachte in der
Not, um mich zu retten. Er hatte ein böses, entzündetes Auge auf mich, öffnete
und schloss es nach seinen Regeln. Ein Strafauge, das mich verfolgte. Mit
vierzehn Jahren nahm ich zum ersten Mal LSD, da lag das blutunterlaufene
Strafauge über ganz Stuttgart gebreitet und scheuchte mich in langen Sprüngen
den Killesberg hinunter. Zitternd saß ich in der Linie 6 nach Degerloch bergauf und sah die Vaterblicke das Dach der
Straßenbahn durchbohren. Nicht mal eine bombenfeste Ideologie, der
Betonleninismus mit all seiner aggressiven Kraft, der nun jahrelang mein Denken
verbarrikadierte, kam dagegen an. Menschen verfaulten in ihren Gräbern. Aus und
fertig. Revolutionshelden lebten fort, aber nur im Gedächtnis der Menschen.
Religion war Opium fürs Volk.
    Ich
brauchte aber bloß ein bisschen Hasch zu rauchen oder LSD zu nehmen, und schon
entlud sich ein christliches Gewitter über meinem Haupt. Jakobsleitern,
Vatergeflatter, himmlische Chöre, richtender Zeigefinger, Wörter wie Blutwursttheater und immer wieder der Geruch der Großmutter, die da oben mit
einem Schwamm den chaotischen Himmel reinigte. Sie schloss dem Vater das Auge,
sorgte für Ordnung, momentweise für helles Entzücken und köstlichen Leichtsinn.
    Bist
blind, mein lieber Gott, so bin ich deiner los.
    Es
drängte mich, die in solchen Tumulten gegebenen Wörter zu verwenden, in einem
Roman. Aus einem

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