Liberty: Roman
Gips.
»In ein paar Wochen, wenn du dich ein bisschen besser bewegen kannst, gehst du mit dem Gips zur Arbeit. Das ist die beste Möglichkeit, um gesund zu werden«, sagt er.
Christian
Wenn er telefoniert, hat der Alte im ganzen Gesicht Ticks. Abwechselnd blinzelt er mit dem einen, dann mit dem anderen Auge, seine Mundwinkel zucken, er beißt sich in die Unterlippe, und irgendein Nerv zuckt unten am Hals. Es geht etwas vor. Gleichzeitig wippt er mit dem Fuß, kratzt sich am Schienbein, reibt sich den Schnauzer, zündet sich eine Zigarette an und legt sie in den Aschenbecher, wobei sein Unterkiefer von einer Seite zur anderen mahlt; dann greift er nach der Schachtel, schüttelt eine neue Zigarette heraus, die er anzündet und pafft, während die erste im Aschenbecher verglimmt.
»Dann sind wir uns ja einig«, sagt er. »Ja, es ist absolut in Ordnung. Nein, es läuft gut, gut. Keine Probleme.« Ich nehme die einsame Zigarette aus dem Aschenbecher. Der Alte schaut mich überrascht an und blickt auf die Zigarette, die er in der Hand hält. Schüttelt schnell und unvermittelt den Kopf, als wollte er eine Spinnwebe entfernen. »Ja, aber ich weiß genau, was er tut«, erklärt er und blinzelt wiederholt mit beiden Augen. Kneift die Augen zusammen, sperrt sie dann wieder weit auf und zieht heftig an der Zigarette. »Ja, das werde ich«, sagt er, »auf Wiedersehen.« Er legt auf. »Ich soll dich von deiner Mutter grüßen.«
»Ja, danke.«
Letzter Schultag vor den Sommerferien. Samantha kommt plötzlich auf mich zu und umarmt mich: »Pass auf dich auf, da oben. Hörst du?«
»Jawohl, gnädige Frau. Und du auf dich hier unten.« Sie küsst mich feucht auf die Wange und klatscht mir auf den Hintern, bevor sie davonwackelt.
Ich frage Sharif, ob er am Nachmittag mit zum Squash kommt, denn ich werde erst morgen fliegen und habe es nicht eilig, nach Hause zu kommen.
»Nein, ich muss Katja noch Tschüs sagen.«
»Und wenn ihre Eltern sie abgeholt haben?«
»Meine Eltern kommen auch. Wir wollen zusammen in die Moschee gehen.« Fuck. Was mache ich jetzt? Mit diesem Zeugnis nach Hause fahren? Nicht bevor der Alte sich ein paar hinter die Binde gekippt hat. Er hat am Abend Gäste eingeladen, die Betankung ist also gesichert. Als es allmählich dunkel wird, fahre ich nach Hause. Einige geparkte Autos. Die ersten Gäste sind schon eingetroffen. Das Essen steht auf dem großen Esstisch in der Küche bereit, ein Buffet. Irgendetwas steht im Ofen und wird warm gehalten. Ich höre sie im Wohnzimmer. Ich gehe hinein, direkt auf Vater zu, gebe ihm das Zeugnisheft. Zu den Gästen gehören Kollegen aus dem Nordic Project sowie Leute aus der Schule, unter anderem mein Englischlehrer.
»Der Standpunkt«, sagt Vater und nimmt das Zeugnisheft. Alle werden still. Er schlägt es auf, blättert und sieht sich die Noten an, überfliegt die Lehrerkommentare zu jedem Fach. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Es ist nicht katastrophal, bis auf ein paar Fächer, wo ich ganz unten bin, total am Ende. Ich stehe ruhig neben ihm und versuche, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Er gelangt ans Ende des kleinen Heftes und blättert zurück, hält inne, räuspert sich, blickt auf und liest mit fester Stimme den Kommentar des Religionslehrers vor: »Anwesenheit: zufällig. Note: null. Es ist keine Benotung möglich, da keinerlei Mitarbeit erfolgte. Es ist schon eine traurige Vorstellung, dass jemand nach eigener Aussage glaubt, das ultimative Interesse der Menschheit müsste die Reggae-Musik sein. Wenn er nicht so sicher wäre, dass er bereits alles weiß, hätte er im Unterricht etwas lernen können.« Vater blickt auf. Im Wohnzimmer wird bemüht gelacht. Er klopft mir auf die Schulter. »Ja, ja«, sagt er. »Sonderlich abergläubisch waren wir in unserer Familie nie.«
Im Flugzeug bekomme ich einen Gangplatz. Wenn ich mich umdrehe, kann ich Katja sehen, die schräg hinter mir auf einem Fensterplatz sitzt. Wir heben ab, und sie presst ihr Gesicht ans Fenster – ein letzter Eindruck von Afrika –, sie kehrt nach Finnland zurück. Ich glaube, sie schluchzt. Ich beuge mich über meinen Nebenmann, einem staubtrockenen Inder, der auf dem Weg zu seiner Familie in England ist. Durchs Fenster sehe ich den West-Kilimandscharo näher kommen. Manchmal fliegen sie eine Runde um den Kibo, damit die Touristen in den Krater blicken können. Aber wir haben Verspätung, und der Pilot fliegt direkt nach Norden. Wir sind bereits ziemlich hoch, aber ich sehe die Straße,
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