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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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hinterbliebenen Schwestern. »Du liebe Zeit, was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Seria Maú. Man hielt einander die Hand vor die geschwollenen Lippen. Die Moire- Herdehatte die meisten Proxysender aufgespürt und benahm sich wie eine Meute von Hunden im Hafenviertel von Carmody. »Uns bleibt ein Puffer von wenigen Nanosekunden«, warnte die Mathematik. »Wir sollten kämpfen oder türmen.« Die Mathematik überschlug blitzschnell. »Aber wenn wir kämpfen, ist es durchaus möglich, dass die anderen gewinnen.«
    »Gut, dann nichts wie weg von hier.«
    »Wohin?«
    »Egal. Einfach abschütteln.«
    »Die K-Herde könnten wir vielleicht abhängen, aber nicht das nastische Schiff. Sein Navigationssystem ist nicht so gut wie ich, aber sein Pilot ist besser als du.«
    »Ich will das nicht mehr hören!«, schrie sie hysterisch. Dann lachte sie. »Was soll’s? Die werden uns nichts tun – nicht, solange sie nicht wissen, welches Ziel wir haben. Nicht mal dann, vermutlich.«
    »Und welches Ziel haben wir?«
    »Willst du nicht wirklich wissen, oder?«
    »Ohne Ziel kein Weg«, gab die Mathematik zu bedenken.
    »Hochfahren!«, befahl Seria Maú. Augenblicklich entfaltete sich rings um sie her das vierzehndimensionale Sensorium der White Cat. Seria Maú übernahm die Schiffszeit. Erste Nanosekunde: Sie roch das Vakuum. Zweite Nanosekunde: Sie spürte die hauchzarte Berührung dunkler Materie. Dritte Nanosekunde: Sie hörte die hiesige Sonne, nie beschriebene Klangbilder einer tobenden Kernfusion. Vierte Nanosekunde – und sie vernahm die live entschlüsselten Befehlssequenzen der Moire- Herde,die einem Medium entstiegen, das aus klaren flüssigen Schichten zusammengesetzt schien und nichts anderes als die Verschlüsselung war, in der der Text schwamm. Binnen fünf Nanosekunden wusste sie alles: Antriebsstatus, Durchsatzgeschwindigkeit, einsatzbereite Waffen. Welche Wunden man nach dem jüngsten Gefecht davongetragen hatte – wessen Hülle an einer kritischen Stelle durch Partikelabrieb geschwächt war, welche Arsenale erschöpft waren. Sie spürte förmlich die Nanomaschinen, die rastlos zugange waren, die Schwachstellen wieder zu verstärken. Die Piloten waren zu jung und zu unerfahren, um zu begreifen, wie es wirklich um sie stand. Nein, dachte Seria Maú, die Mathematik konnte sagen, was sie wollte, die Moire- Herdewar zu schlagen. Sie hing eine weitere Nanosekunde in der vierzehndimensionalen Nacht und wärmte sich auf. Lichtschimmer und Lichtfasern kamen und gingen. Fernes, das an Geräusche erinnerte. Sie hörte, wie Krishna Moire »Geschafft!«, sagte und wusste, dass er sich irrte.
    Jetzt war sie in ihrem Element.
    Es war das Element für Menschen, die nicht mehr wussten, wer oder was sie waren. Die es nie gewusst hatten. Für Onkel Sip war sie ›eine traurige Geschichte‹. Ihre Mutter war schon lange tot. Ihren Vater und ihren Bruder hatte sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Mona, der Klon, hatte nur Verachtung für sie empfunden, und Billy Anker hatte selbst dann noch Mitleid mit ihr gehabt, als er den Tod starb, den sie ihm zugedacht hatte; hinzu kam, dass sie seinen grausamen Tod immer noch vor Augen hatte, gleichsam als Vorgeschmack auf das eigene Ableben. Dann redete sie sich ein, dass der ganze Problemkomplex des Menschseins in einer solchen Situation so durchsichtig war, dass sie ungetrübt durch ihn hindurchblicken konnte – direkt in den schlichten Code darunter. Sie konnte bleiben oder Reißaus nehmen – hier und jetzt nicht anders als im Leben. Sie war das Schiff.
    »Bewaffne mich«, befahl sie der Mathematik.
    »Hast du dir das auch überlegt?«
    »Bewaffnen!«
    Eben jetzt fand die K-Herde den letzten Proxysender und bekam den Faden in die Hand, der zur White Cat führte. Doch sie hörte mit, und die anderen dachten immer noch in Millisekunden. Jedes Mal wenn man sie ortete, war sie wieder woanders. Dann, in dem Sekundenbruchteil, den sie brauchten, um zu kapieren, was Sache war, war sie mit ihnen auf Tuchfühlung.
    Der Kampf musste binnen anderthalb Minuten beendet sein, oder Seria Maú würde verglühen. In dieser Zeit wollte sie ihre Gegenwart im Normalraum auf unberechenbare Weise fünfzig- oder sechzigtausendmal unterbrechen. Später würde sie sich kaum noch daran erinnern können, hier ein Bild, da ein Bild. Für K-Schiffe sah die Explosion einer exquisiten Gammabombe, die für endlose vierzehn Nanosekunden 50.000 Kelvin erzeugte, wie eine Blume aus. Ziele änderten sich unter

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