Licht und Dunkelheit
Fingern. Auf einem befand sich ein rostfarbener Fleck. Die Tagebücher von Larisan.
Das erste handelte von ihrem Leben in Mintra, das zweite von ihrem Leben auf Burg Ikatuk und das letzte von ihrem Leben in der Garde des hohen Lords. Beinahe wäre Levarda beim letzten Titel ein Überraschungsschrei herausgerutscht, aber sie beherrschte sich rechtzeitig, zumal Adrijana anwesend war. Dieses Buch über die Garde besaß den Fleck und Levarda spürte, dass es sich um Blut handelte. Die Frage war nur, wessen Blut.
Ihr fielen die Worte von Lord Otis, ein: Schneidet Euch die Haare ab, umwickelt Eure Brust mit Bandagen und arbeitet mit dem Vorurteil, dass keine Frau so kämpfen kann wie ein Mann. Er hatte ihr erzählt, dass seine Großmutter in der Garde gewesen war.
Sanft glitten Levardas Hände über die Einbände. Sie überlegte, ob sie Lord Otis von dem Fund in Kenntnis setzen sollte, entschied sich aber dagegen, nachdem sie den Eintrag auf der letzten Seite des dritten Buches gelesen hatte.
»Mögen dereinst diese Aufzeichnungen einer Tochter Mintras helfen, mein Leben besser zu verstehen und ihr selbst ein Wegweiser in dieser Welt sein – damit sich nicht dieselben Fehler wiederholen und damit mein Geist Ruhe finde.«
Sie starrte in das Feuer, das mit wenig Holz am Brennen gehalten wurde, da die Sonne den Raum wärmte. Wäre sie nicht mitgereist, dann wäre der Überfall anders verlaufen. Hätten sie nicht fliehen müssen, so wäre ihre Kleiderkiste nicht aussortiert worden. Nur so war sie auf diese kostbaren Schriften gestoßen, geschrieben in der Hochsprache Mintras und daher nicht lesbar für die Menschen aus Forran, denn gewiss beherrschte niemand diese aus hiesiger Sicht unbedeutende Sprache.
Sie waren für Levarda bestimmt. Nur so ergab alles einen Sinn. Nur so fügten sich die Ereignisse zusammen. Sie schob das erste Buch beiseite und begann mit der Lektüre des zweiten. Dem über Larisans Leben auf Burg Ikatuk.
»Meinem Herzen folgend, traf ich in einer Vollmondnacht auf Burg Ikatuk ein« , las Levarda. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Bild der schwarzgelockten, hohen Gestalt von Larisan, die des Nachts Einlass in Burg Ikatuk verlangte. Warum sie sich Larisan so vorstellte, wusste sie auch nicht genau. Das Buch zog sie immer mehr in seinen Bann. Sie erlebte die Freude von Lord Otis‘ Großvater, als dieser seine geliebte Larisan vor den Toren entdeckte. Aha, offensichtlich waren sich die beiden bei einer Verhandlung der Forraner mit den Mintranern begegnet. Dann ihre Weigerung, ihn zu ehelichen, weil sie nicht bereit war, in die Welt der Frauen ohne Rechte einzutauchen. Sie wollte unabhängig bleiben, frei und geliebt.
Levarda las von den zunehmenden Schwierigkeiten zwischen den beiden aufgrund der verschiedenen Auffassungen über das Leben einer Frau. Kilja, der damalige Lord von Burg Ikatuk, liebte die Unabhängigkeit an Larisan. Gleichzeitig kannte er den Umgang mit einer selbstbewussten Frau nicht. Die Mintranerin nahm keine Anweisungen an, blieb nicht im Hause. Sie ritt über das Land, mischte sich in seine Aufgaben ein. Sie redete mit seinen Lehnsmannen und erteilte Ratschläge, wie er sie behandeln sollte. Es gab nichts, zu dem sie keine Meinung hatte, und sie stellte Lord Kiljas Entscheidungen auch in Anwesenheit anderer Herrschaften infrage. Auf einem Fest beim hohen Lord sorgte sie für einen Skandal, indem sie sich in die politische Diskussion der Männer freimütig einmischte. Das führte dazu, dass Lord Kilja seine Stellung als dessen Berater einbüßte.
All das akzeptierte er, weil er Larisan liebte. Sie blieben dem Hof des Herrschers von Forran von da an fern. Lange weigerte sich Larisan, Lord Kilja ein Kind zu schenken. Dann erfüllte sie ihm seinen Wunsch und schenkte ihrer Tochter Gunja das Leben.
Die Mutterschaft drückte die freiheitsliebende Frau in eine Rolle, die sie völlig aus der Bahn warf. An das Haus gebunden in der Verpflichtung, die sie ihrer Tochter gegenüber fühlte, verweigerte sie sich Kiljas Wunsch nach einem zweiten Kind.
Larisans Konflikt glühte Levarda aus jeder Zeile entgegen. Sie war eine Frau des Feuers – voller Leidenschaft. Levarda sah Larisans Liebe zu Kilja, die Liebe zu ihrer Tochter und ihre Unfähigkeit, sich den Regeln in diesem Land zu fügen.
Sie seufzte tief, als das Licht am Kamin zum Lesen nicht mehr ausreichte. Sie stand auf und ging ans Fenster, das ein breites Sims besaß, holte sich noch ein Kissen vom Bett, bevor sie es sich bequem
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