Licht und Dunkelheit
sie erschrocken einen Schritt zurückweichen. Sie rieb sich die Arme. Sie brannten. Sie griff an ihr Amulett. Eine kühle Flut durchströmte gleich ihren Körper. Endlich kehrte Ruhe in sie ein. Verwundert schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht, die Kraft ihres Amuletts zu nutzen? Bei ihrem aufgewühlten Gemütszustand! War das die Absicht ihres Gastgebers gewesen? Sie daran zu erinnern, sich zu fassen?
»Wir alle werden für Euer Wohlergehen persönlich verantwortlich sein, sobald Euch die Zeremonie zur Gemahlin des hohen Lords gemacht hat«, fuhr er unbeirrt fort.
Was für eine Ironie, dachte Levarda, da wurde ja der Henker zum Beschützer! Sie konnte nicht anders, sah den ersten Offizier der Garde an und musterte sein Gesicht. Wie brachte man es nur fertig, mit solcher Verlogenheit zu leben, fragte sie sich. Er ignorierte ihre Anwesenheit völlig, und seine Mimik blieb bewegungslos, wie in Stein gemeißelt.
»Wir möchten, dass Ihr uns kennenlernt und Euch in unserer Gesellschaft wohlfühlt.«
Fast wäre Levarda ein boshaftes Lachen herausgerutscht. Sie verkniff es sich im letzten Moment. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Misstrauen wallte in ihr auf und die Gewissheit überkam sie, dass irgendetwas anderes hinter dem Essen steckte.
Lady Smira lächelte geschmeichelt. »In Eurer Nähe fühle ich mich sicher, Lord Otis.«
Diesmal rutschte Levarda ein Schnauben über die Lippen. Er tat so, als hätte er nichts gehört. Ihre Cousine sah sie entsetzt an. Galant reichte der Hausherr seinem weiblichen Gast die Hand und brachte die Lady zum Kopfende des Tisches. Levarda kannte das Verhalten von Lord Otis, der sie betont ignorierte, und verschwendete keinen Gedanken an ihn. Ihr Blick traf den von Rika, und sie sah Genugtuung darin.
Gerade überlegte sie, wo sie sich hinsetzen sollte, da tauchte Egris vor ihr auf. Er lächelte sie an, führte ihre Hand ebenfalls bis kurz vor seine Lippen.
»Darf ich Euch zu Eurem Platz geleiten, Mylady?«
»Ja«, brachte Levarda als einzige Antwort heraus, verwirrt von seiner Förmlichkeit.
»Ihr sitzt heute Abend neben mir, wenn Euch das nichts ausmacht«, fügte er hinzu.
»Nein, im Gegenteil. Ich freue mich über diese Sitzordnung.«
Es gab am Tisch überhaupt nur zwei Männer, in deren Gesellschaft sie sich absolut wohlfühlte – Egris und Sendad. Egris führte Levarda auf die rechte Seite neben Lady Smira und nahm auf ihrer anderen Seite Platz. Timbor vollendete die Reihe.
»Lady Smira, wir haben für diesen Abend eine besondere Regel aufgestellt«, erklärte Lord Otis mit sanfter Stimme, »die es Euch erleichtert, Euer Essen zu genießen. – Ihr dürft ausnahmsweise das Tuch vor Eurem Gesicht entfernen.«
Lady Smira warf Levarda einen verunsicherten Blick zu.
Das Schaf zeigt seinen Wolfspelz, zuckte es dieser durch den Kopf. Steckte hier die wahre Absicht hinter dem netten Abend? Mal sehen, wie wichtig Euch dieser Punkt ist, dachte Levarda.
Mit einem höflichen Lächeln wandte sie sich an Lord Otis.: »Wie Ihr sicherlich wisst, ist es der zukünftigen Gemahlin des hohen Lords nicht erlaubt, ihr Gesicht vor der Hochzeit anderen Männern gegenüber zu entblößen. Erschwerend kommt der Umstand hinzu, dass es sich mit Ausnahme von Egris um – unverheiratete Männer handelt.«
Mit einem gekonnten Wimpernschlag, die Augen gesenkt, fügte sie hinzu: «Lady Smira wäre andernfalls nicht mehr rein für den hohen Lord. Euch ist bekannt, dass dies eine strenge Regel der Etikette ist.«
»Ihr versetzt mich in Erstaunen, Mylady. Ich hätte nicht erwartet, dass Ihr sie kennt.« Er betonte das ‚Ihr‘, und in seinen Augen funkelte es. »Das hier ist eine Ausnahme, wie ich bereits erwähnte. Eine Ausnahme, die selbstverständlich vom hohen Lord persönlich genehmigt wurde, damit seine zukünftige Gemahlin ihre Beschützer von Angesicht zu Angesicht kennenlernt. Es freut mich aber, dass Ihr auf der langen Reise etwas dazugelernt habt.«
Sie zeigte sich betont unbeeindruckt. »Wer sagt mir, dass Ihr die Wahrheit sprecht?«
Sie hörte, wie mehrere Personen scharf die Luft einzogen. Für einen Moment herrschte völlige Stille im Raum.
Levarda spürte Lord Otis‘ brennenden Blick auf ihrem Haar und war froh, dass sie die Augen weiter auf ihren Teller gerichtet halten konnte. Andernfalls hätte er ihren Zorn sehen können – über seine Lüge, die ihm so glatt über die Lippen gegangen war. Bei seinen Worten war ihr
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