Licht und Dunkelheit
sie biss sich auf die Lippen.
»Was geschah weiter?«
»Ich ging näher, und als ich mich vielleicht noch fünf Schritte vom See entfernt befand, drehte er – oder sie – sich um und tauchte ein in den See. Als sie nicht wieder auftauchte, bekam ich Panik. Ich zog meine Sachen aus und sprang hinterher. Das Wasser war eiskalt, doch ich sah ihren Körper, der im See versank. Ich tauchte, ergriff ihre Hand und zog sie hoch. Ihr Kopf durchbrach die Wasseroberfläche und sie lachte, und dann sah ich, es war nicht mehr die Frau, in die sich mein Vater verwandelt hatte, sondern Ihr wart es.«
Sie schwiegen.
Levarda musste nachdenken. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie den Menschen, denen sie half, in ihren Träumen begegnete. Aber weshalb erschien Larisan Sendad im See und nicht in ihrem Element Feuer?
Sie ärgerte sich, dass sie das Buch nicht mehr hatte zu Ende lesen können. Es gab so vieles, was sie nicht verstand. Wieso ein Amulett existierte und Energie enthielt von einem Menschen, der nicht mehr auf der Erde weilte.
Wie alt mochte Sendad sein? Zwanzig? Höchstens vierundzwanzig. Lord Otis musste älter sein. Aber wenn Lord Otis der Enkel von Larisan war, und selbst wenn Gunja ihren Sohn in so jugendlichem Alter wie Lady Smira bekommen hatte, musste seine Mutter bereits vierzig gewesen sein, als sie Sendad bekam.
»Lord Otis sagte mir, dass Ihr mein Herz in den Händen gehalten habt«, durchbrach Sendad die Stille.
»Er meinte es nicht im wörtlichen Sinne.«
Er kreuzte ebenfalls die Beine und legte seine Arme darauf. »Ich weiß, dass Otis besondere Fähigkeiten hat. Mein Vater unterrichtete ihn einst in diesen Künsten. Mich lehrte er das nie. Eines Tages verschwand er spurlos, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Otis war in dieser Zeit für mich da. Er lügt mich nicht an. Sagt mir die Wahrheit. Was habt Ihr gemacht?«
Levarda sah ihn an. Er besaß die blauen Augen seines Vaters, nein, seiner Mutter, korrigierte sie sich. Wie konnte sie diesen Augen widerstehen?
Sie reichte ihm ihre Handflächen und bedeutete ihm, seine Hände daraufzulegen, umschloss seine Hände. Sanft nahm sie das Fließen des Feuers in ihm wahr, kaum spürbar und doch vorhanden. Sachte ließ Levarda ihre Energie dagegenströmen. Sie nahm ihr Wasser und löschte sein Feuer bis zu seinen Ellenbogen. Überrascht sah er sie an.
»Was fühlt ihr?«, fragte sie ruhig.
»Mein Arm ist kalt.«
Sie zog ihre Energie zurück, fütterte sein Feuer ein wenig mit ihrem.
»Es wird warm, nein, heiß.«
Levarda ließ seine Hände los.
»Das ist es, was ich machen kann. Ich helfe einem Körper, wenn er krank ist und seine Lebensenergie schwach wird. Ich versuche meine Energie an die Stellen zu bringen, die besonders gefährdet sind, und zeige dem Körper, wo er seine Heilung beginnen muss, mehr nicht, Sendad. Ich kann keine Toten erwecken und keine tödlich Verletzten heilen. Meine Kräfte stärken einfach die des Menschen, der das in dem Moment selber nicht kann. Dass ich Euer Herz in Händen hielt, ist eine poetische Ausdrucksweise«, sie schmunzelte, »eine, die ich Lord Otis nicht zugetraut hätte.«
Sendad betrachtete seine Hände. »Es passiert nicht immer, wenn Ihr mich berührt.«
Levarda lachte. »Nein, wenn ich es nicht kontrollieren könnte, würde ich all meine Lebensenergie verlieren und müsste sterben. Ich weiß, es klingt kompliziert, ist es aber nicht. Schaut Euch diesen See an. Was passiert, wenn ich einen Eimer nehme und beginne ihn auszuschöpfen?«
»Ihr müsstet lange schöpfen, bis etwas geschieht.«
»Einverstanden. Versuchen wir es anders. Denkt an den Sommer. Ist dieser Steg an derselben Stelle im See wie heute?«
»Nein, natürlich ist das Ufer näher, das Wasser nimmt ab durch die Hitze, aber zum Herbst hin, wenn die Regentage länger andauern, füllt er sich wieder.«
»Seht ihr, genauso ist es mit der Energie in Eurem Körper. Ihr esst, Ihr schlaft, ruht Euch aus, damit gewinnt Ihr Energie. Ihr seid wach, bewegt Euch, damit verliert Ihr Energie.«
»Ich glaube, ich verstehe, was Ihr mir erklären wollt.«
»Dann seid Ihr an der Reihe, mir eine Frage zu beantworten. Wieso glaubt Ihr, mich so gut zu kennen, dass Ihr wusstet, ich würde nicht fliehen?«
Er wand sich, aber Levarda ließ ihn nicht aus den Augen.
Schließlich begann er zu erzählen: »Zu den Zeiten, wenn ich einschlief und Ihr bei mir wart, träumte ich.« Er rieb sich mit dem Mittelfinger über die Nasenwurzel. »Ich sah eine Höhle, und
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