Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
ausreichen würde, um einen Sedhar in einen Rauschzustand zu versetzen. Es war ungerecht. Zu gerne hätte Ray sich heute betrunken. Es war wunderbar, seine Sorgen zu vergessen. Erst zwei Mal in seinem Leben hatte er es geschafft, seine Empfindungen in Alkohol zu ertränken. Leswards Zorn, den er sich daraufhin zugezogen hatte, war allerdings nicht Bestandteil der angenehmen Erinnerung. Heute jedoch war es ihm egal, er würde sich noch so viele Flaschen Whisky kaufen, wie es nötig war, um es ein drittes Mal zu schaffen.
Gedankenverloren wickelte Ray sich das Band um den Finger, das den breiten ledernen Armreif zusammenhielt. Er war alles, was ihm von seinem Vater geblieben war. Verdammt, weshalb war er heute so sentimental? Ray schleuderte die leere Whiskyflasche aufs Meer hinaus. Dann krallte er sich mit den Händen in das harte Gras und zog es büschelweise heraus. Vielleicht stand ihm heute doch der Sinn nach Blutvergießen. Als er sich erhob, stand der Mond bereits hoch am Himmel.
Kapitel 3
Die Langeweile wurde zu ihrem größten Feind. Unzählige Male war Jil bereits auf- und abgeschritten, hatte sich dann wieder hingesetzt, um nur Sekunden später erneut aufzuspringen und umherzulaufen. Eine kleine Petroleumlaterne hing von der Decke herab. Das spärliche Licht, das sie spendete, reichte kaum aus, um die letzten Winkel des Raumes auszuleuchten. Auf dem großen dunklen Holztisch in der Mitte lag ein ausgerolltes Pergament, das man an den Enden mit funkelnden Steinen beschwert hatte. Jil war des Lesens zwar nicht mächtig, dennoch erkannte sie, dass es sich um eine Karte von Haven handelte. Eine gefühlte Ewigkeit lang hatte sie sie angestarrt, da das Studium der Karte ihr noch am ehesten die Langeweile zu vertreiben vermochte. Um den Holztisch herum standen fünfzehn Stühle, der Stuhl am Kopf der Tafel hob sich von den anderen ab. Er war gepolstert und mit Leder bespannt, während die anderen einfach und zweckmäßig waren. An den Wänden des Zimmers standen hohe Regale, die bis unter die Decke mit Aktenordnern gefüllt waren. Jil hatte aus Neugier den ein oder anderen herausgenommen und aufgeschlagen, aber für einen Menschen, der keine Buchstaben kannte, war auch dies keine sinnvolle Beschäftigung. Die Tür zum Konferenzraum der Vartyden war verschlossen, davon hatte sich Jil gleich zu Anfang überzeugt, als Nola sie hier zurückgelassen hatte. Mittlerweile musste es mitten in der Nacht sein. Ob die Vartyden wieder einmal aufgebrochen waren, um das Blut ihrer Artgenossen zu vergießen? Jil wollte nicht darüber nachdenken, zu tief saß der Schock noch immer. Vielleicht würden die Vartyden auch sie selbst töten, wenn ihnen keine andere Lösung für ihren Verbleib einfiel. Sogar Ray traute sie zu, sich ihrer auf diese Art und Weise zu entledigen. Sie hatten wirklich guten Sex gehabt, das würde er nicht leugnen können, doch reichte das auch aus, um Jils Leben zu verschonen? Bei dem Gedanken an den letzten Morgen durchfuhr Jil ein wohliger Schauer. Ray war ein gewissenlos tötendes arrogantes Arschloch, aber er hatte Stil, das musste man ihm lassen. Wenn die Vartyden sie tatsächlich leben ließen und womöglich sogar bei sich aufnahmen, hätte Jil genau das erreicht, was sie sich noch vor wenigen Tagen gewünscht hatte. Eine bessere Gelegenheit, um doch noch mehr über dieses Sedhiassa und dessen Verbleib herauszufinden gab es nicht.
Die Tür öffnete sich mit einem Zischen. Jil, die es sich gerade auf dem gepolsterten Stuhl gemütlich gemacht hatte, zuckte zusammen, denn das Geräusch knallte wie ein Peitschenhieb durch die Stille. Nola kam herein. Sie schloss die Tür hinter sich. Sie trug einen schwarzen hautengen Anzug, ihre blonden Haare waren zerwühlt und über ihre linke Wange zog sich ein dunkler Streifen Dreck. Sie sah müde und abgekämpft aus. An einem Gürtel um ihre schmale Taille hing ein Pistolenhalfter. In einer Hand balancierte Nola eine Schale, deren Inhalt dampfte und einen appetitlichen Duft verströmte. Jil bemerkte, wie sehr ihr Magen vor Hunger schmerzte. Nola stellte die Schale vor Jil auf den Tisch und zog einen kleinen Löffel aus ihrer Hosentasche, den sie daneben legte.
»Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte Nola und setzte sich auf einen der anderen Stühle. Sie nahm die Steine von den Kanten des Pergaments und rollte es sorgfältig zusammen. »Die Pflicht hat mich gerufen, leider. In letzter Zeit haben wir fast jede Nacht einen Einsatz.«
Jil
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