Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
Schon bald hatte Dana Mühe, nicht wieder nach unten zu rutschen. Sie konnte die Panik jetzt kaum noch unterdrücken. Wenn sie jetzt schrie oder um sich schlug, würde es ihre Situation nicht gerade verbessern. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust wie eine Kriegstrommel, das Blut rauschte in ihren Ohren, doch Dana kämpfte tapfer weiter. Niemandem wäre damit geholfen, wenn sie jetzt vor Angst die Besinnung verlor, am allerwenigsten Jil. Der Gedanke an ihre Schwester beflügelte Dana, sich Zoll für Zoll weiter vorwärts zu kämpfen. Sie brach sich sämtliche Fingernägel ab bei dem Versuch, Halt zu finden. Noch vor wenigen Tagen wäre dies ein Desaster für sie gewesen, jetzt scherte sie sich nicht mehr um ihr Äußeres. Jetzt zählte nur noch ihr Überleben, Jils Überleben.
Danas Hand griff nach etwas Hartem, das aber nicht aus Stein bestand. Gerade, als der Schacht sich beinahe senkrecht nach oben bohrte und Dana kaum noch Hoffnung hatte, den Ausgang zu erreichen, verbreiterte er sich jäh. Dana hatte ein Holzstück zu fassen gekriegt, das jemand an dieser Stelle an die Wand genagelt hatte. Sie krallte sich daran fest. Ihre freie Hand bekam schon bald ein weiteres Holzstück zu fassen.
Eine Leiter. Da sind Sprossen an der Wand.
Obwohl ihre schwachen Muskeln kaum noch in der Lage waren, sich daran hochzuziehen, durchflutete Dana ein Gefühl der Erleichterung. Sie hob ein Bein und setzte den Fuß auf das unterste Holzstück. Der Luftzug wurde stärker, und auch fiel Licht von oben in den Schacht. Langsam begann sie, ihre Umgebung wieder mit den Augen wahrzunehmen. So musste sich die eigene Geburt angefühlt haben. Dana hätte vor Freude am liebsten laut aufgeschrieen. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte und zerrte sich noch weitere Stufen hinauf, bis sie mit dem Kopf plötzlich durch ein Loch in der Decke stieß. Tageslicht fiel ihr ins Gesicht, Sand rieselte an ihr herab in alle Ritzen ihrer Kleidung. Sie kletterte hinaus und blieb noch einige Atemzüge lang neben dem Ausstieg sitzen. Die Sonne stand tief, bald würde es dämmern. Dana suchte die Umgebung mit den Augen ab. Das Meeresufer war nur einen Steinwurf entfernt, das Rauschen der Wellen übertönte beinahe das Kreischen der Möwen, die auf den Felsen entlang der Küste saßen und sich um ihre Beute stritten. Hohes Gras wuchs rings herum, das Loch war perfekt getarnt. Nirgends gab es eine Spur von menschlicher Besiedlung. Wäre ihre Situation nicht so ernst gewesen, hätte Dana die Ruhe und den wundervollen Ausblick beinahe genossen. Sie musste sich noch immer auf Falcon’s Eye befinden.
Langsam erhob sie sich von ihrem Platz und klopfte sich den Sand von der Kleidung. Sie blickte nach rechts und links. In der Ferne sah sie Rauchschwaden vom Ufer jenseits der Meerenge aufsteigen. Dort musste sich Haven befinden. Dana hatte keinen Plan, wie sie dorthin gelangen konnte, ohne von der Stadtwache einkassiert zu werden, aber rumzustehen und sich Sorgen zu machen rettete Jil ganz gewiss nicht. Sie würde sich Gedanken über die Lösung dieses Problems machen, wenn sie den Hafen erreicht hatte.
Dana ging dicht am Ufer entlang. Schroffe Felsen, dornige Büsche und hohes Gras, das ihr mehr als einmal tief in die Haut schnitt, erschwerten ihr den Weg beträchtlich. Immer wieder irrte ihr Blick zu der hohen Stadtmauer, die hin und wieder zwischen den Dünen und dem Gestrüpp hervorblitzte. Sie war zu weit entfernt, um von dort aus entdeckt zu werden, dennoch spürte Dana fortwährend die Gefahr, die von der Bevölkerung dieser Insel ausging. Noch bedrohlicher als die patrouillierenden Soldaten der Stadtwache waren jedoch die düsteren Anhänger von Leswards Geheimdienst, die den Verletzten sicherlich längst gefunden hatten. Jedes Knacken im Geäst, jedes Flüstern des Windes jagte Dana einen Schrecken ein. Doch ihre Angst war unbegründet, niemand verfolgte sie.
Sie erreichte einen kleinen Trampelpfad, den andere Füße bereits ausgetreten hatten. Er schlängelte sich die Böschung bis zum Ufer hinab. Dana zögerte. Ein Pfad bedeutete, dass Menschen sich hier aufhalten konnten. Nun, sie würde es nicht vermeiden können, Menschen zu begegnen, wenn sie den Hafen erreichte. Schließlich entschloss sie sich, dem Pfad zu folgen. Es erleichterte ihr den mühevollen Marsch durch das unwegsame Gelände. Der Weg endete jäh direkt am Ufer. Gerade, als Dana sich darüber wundern wollte, fiel ihr Blick auf einen besonders hohen Grasbusch, der nicht natürlich wirkte.
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