Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
das sie immer wieder unter Wasser zog. Die Strömung trug sie mit hoher Geschwindigkeit durch die unterirdischen Tunnel. An Kreuzungspunkten schwächte sich der Wasserschwall nicht etwa ab, sondern wurde zu einem reißenden Strom, da auch aus den Nebengängen Wassermassen strömten, die den Hauptschwall speisten und verstärkten.
Jil versuchte, den Kopf über der Wasseroberfläche zu halten, doch schon bald stieß sie mit der Stirn gegen die Decke. Todesangst durchflutete Jil. Sie wusste nicht, wie weit es noch bis zur großen Halle war und ob das Wasser sie überhaupt dorthin spülen würde. Nur dort hatte sie eine Chance zu überleben, weil die Decke sehr hoch war.
Kurz bevor das Wasser den kompletten Gang ausgefüllt hatte, schnappte Jil noch ein letztes Mal nach Luft. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich darauf zu verlassen, dass sie innerhalb der nächsten Minute die große Halle erreichen würde. Sie hatte noch nie zuvor zu Gott gebetet, aber in diesem Moment tat sie es. Sie bettelte ihn förmlich an, ihr Leben zu verschonen.
Die Zeit verrann viel zu schnell. Jil glaubte, schon nach wenigen Sekunden wieder den Drang zu verspüren, Luft zu holen.
Ich sterbe. Ich sterbe.
Ihre Gedanken rasten. Schon tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen. Sie dachte an Ray. Ausgerechnet er würde ihr letzter Gedanke sein.
Plötzlich verlangsamte sich ihre rasante Reise durch den Strom, als das Wasser wie durch ein Nadelöhr in einen großen Hohlraum drängte und sich dahinter weitläufig verteilte.
Die große Halle.
Jils Kopf drang durch die Wasseroberfläche, reflexartig tat sie einen tiefen Atemzug und hustete. Sie war beinahe zu schwach, um mit Armen und Beinen zu rudern, damit sie nicht erneut unterging. Sie blinzelte, denn es war wieder hell. Nun, zumindest lag ihre Umgebung nicht mehr in vollkommener Dunkelheit. Von der hohen Decke hingen zwei einsame Gaslaternen, die noch brannten und die Katastrophe überstanden hatten. Jil zitterte am ganzen Leib, die Kälte war bis zu ihren Eingeweiden durchgedrungen. Ihre Finger hatten eine bläuliche Farbe angenommen und wirkten wie tot.
Jil sah sich um. Sie musste den Treppenaufgang erreichen, der nach draußen in den Stadtpark oder zu sonst einem Ausgang führte. Jil schätzte, dass die große Halle über fünf Yards tief unter Wasser stand, und der Pegel stieg noch weiter. Sie blickte nach oben. Hinter den Fenstern der Türme nahm sie Bewegungen war. Einige Sedharym schienen sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht zu haben. Auf dem kleinen Balkon eines Turms auf der gegenüber liegenden Seite der Halle stand eine Frau mit braunen schulterlangen Haaren. Auch über eine Entfernung von über fünfzig Yards konnte Jil erkennen, dass sie sehr blass war. Ihre Ellenbogen lehnten auf dem Geländer und sie starrte mit leeren Blicken auf die Wasseroberfläche. Jil verspürte kurzzeitig den Drang, nach Hilfe zu rufen, aber sie besaß weder die Kraft dazu noch glaubte sie, dass die Frau oder irgendjemand sonst ihr Beachtung schenken würde. Jil ruderte schwerfällig mit ihren Armen und Beinen, um sich von der Stelle zu bewegen. Ihr Blick klebte dabei förmlich an der Treppe, die zugleich ihr rettendes Ufer und der Weg in die Freiheit sein würde. Sie kam nur quälend langsam voran. Einmal streifte sie mit dem Arm einen Gegenstand, der im Wasser schwamm. Als Jil in der Hoffnung, etwas gefunden zu haben, an dem sie sich festhalten konnte, daran zog, förderte sie einen Arm zutage, der eiskalt und steif war. Das leblose Gesicht seines Besitzers tauchte direkt neben ihr unter der Wasseroberfläche auf und schien sie mit leeren Augen anzustarren. Angeekelt stieß Jil die Leiche mit den Füßen von sich und suchte das Wasser mit den Augen nach weiteren darin treibenden Überraschungen ab. Überall schwammen Leichen. Die große Halle von Sedhia war ein nasses Massengrab. Jil stieg ihr Mageninhalt bis in den Hals. Sie würgte und schauderte. Angespornt von ihrem Abscheu ruderte sie weiter auf die Treppe zu. Als sie endlich mit den Händen nach einer glitschigen Stufe griff, fand sie mit ihren gefühllosen aufgeweichten Fingern keinen Halt daran. Sie legte den Oberkörper auf die Stufe und versuchte, den Rest ihres Körpers aus dem Wasser zu wuchten, aber sie schaffte es nicht. Ihre Kleidung war zu schwer und ihre Kräfte waren aufgebraucht. Jil hob den Blick. Die Tür nach draußen musste offen stehen, denn ein fahler Lichtschein drang durch den Gang und die Treppe hinunter bis zum
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