Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
den Hals hinunter bahnte. Der rote Stein glühte noch immer. Jil setzte sich auf die Kante des Gehsteigs und zog die Beine unter ihr Kinn. Ihre nasse Kleidung klebte unangenehm auf ihrer Haut und der Wind ließ sie vor Kälte zittern. So würde die Geschichte also enden. Es war ein so vollkommen sinnloses Ende, denn weder die Sedharym noch die Vartyden waren aus diesem Kampf als Sieger hervorgegangen. Es gab nur Verlierer. Und es gab Tote.
Dana .
Der Gedanke an ihre Schwester versetzte Jil erneut einen Stich. Selbst bei dem törichten Versuch, Danas Mörder das Leben zu retten, war sie gescheitert. Hätte sie es doch bloß nie versucht. Jeder hätte Verständnis dafür gehabt, wenn Jil Ray einfach achtlos hätte liegen lassen. Aber jetzt? Jetzt blieb der Tod ihrer Schwester ungerächt und ein weiteres Leben war ihr durch die Finger geronnen wie Sand. Jil fühlte sich elend, fühlte sich wie eine Verräterin an ihrem eigenen Fleisch und Blut.
»Es war nicht meine Schuld«, versuchte Jil sich selbst zu beschwichtigen. »Jeder hätte so gehandelt. Ich habe mich täuschen lassen, und jetzt kann ich es nicht mehr ändern.« Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel. Wolkenfetzen zogen vorbei. Die Morgensonne verdunstete das Wasser auf der regennassen Straße, sodass sie dampfte.
»Meine Schuld ist ebenso groß.«
Jil fuhr herum, beinahe wäre ihr das Herz stehen geblieben. Neben ihr auf dem Gehsteig hockte Ray. Er war noch immer blass, aber seine Augen glänzten wieder. Mit geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen, schämen oder ärgern sollte.
»Ich vermute, es wäre höflich, dir jetzt zu danken«, sagte Ray. Auch auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen wider. »Obwohl ich zugeben muss, dass mir der Tod ein angenehmer Gefährte gewesen wäre.« Ein bitteres Lächeln huschte über seine Züge. »Mein Leben ist verwirkt.«
Eine Weile lang sahen sie sich nur in die Augen, niemand sprach ein Wort. Jil fühlte sich hilflos. Es war besser, überhaupt nicht zu reagieren, als etwas zu tun, das sie hinterher wieder bereuen musste.
Ray griff sich mit der Hand an den Ohrring. »Du hast mir weh getan«, sagte er mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.
»Entschuldige bitte, dass ich es gut mit dir gemeint habe, du Widerling«, sagte Jil. Ihre Stimme war belegt, sie räusperte. Besaß dieser Idiot doch tatsächlich noch die Unverfrorenheit, sich darüber zu beschweren.
Ray verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, das allmählich in ein breites Grinsen überging. Was war daran bitte so amüsant? Der Sauerstoffmangel musste seinem Verstand ordentlich zugesetzt haben.
»Du müsstest dich jetzt sehen«, sagte er. »Dein empörtes Gesicht erinnert mich an die Jil, die ich kennengelernt habe. Zwischen deinen Augenbrauen bildet sich immer eine süße Falte, wenn du dich ärgerst.«
Jil bemerkte die Provokation und bemühte sich, ihr Gesicht zu entspannen. Sie kam nicht umher, sein Lächeln zu erwidern. »Ich hoffe, du bist dir darüber bewusst, dass du es eigentlich nicht verdient hast.«
Ray hob die Hände und machte eine beschwichtigende Geste. »Ich dachte, wir waren uns einig, dass Rachegedanken dumm und sinnlos sind. Aber natürlich verstehe ich, wenn du mich niemals wiedersehen willst. Und obwohl du mich vorher nicht gefragt hast, bin ich dir dankbar für deine Rettungsaktion. Es erfordert viel Umsicht, in einem solchen Moment die Kontenance zu bewahren.«
Jil fühlte sich geschmeichelt. Sie wollte nicht mehr darüber reden, es war ihr unangenehm. »Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie stattdessen.
Ray stieß die Luft zwischen den Zähnen aus und senkte den Blick. »Ich weiß nicht. Ich schätze, ich gehe zurück zu meinen Kameraden und berichte ihnen die frohe Botschaft, dass das Licht zu uns zurückgekehrt ist.« Er hob die Augenbrauen und warf Jil einen fragenden Blick zu. »Es sei denn, du möchtest den Ohrring wiederhaben.«
»Sei nicht albern. Was soll ich denn damit anfangen?«
Ray zuckte die Achseln. »Und was wirst du jetzt tun?«
Jil hatte noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht. Sie hatte kein Zuhause mehr, keine Perspektive. »Vielleicht gehe ich nach London und versuche dort mein Glück als Taschendiebin.«
Ray neigte den Kopf leicht. »Das hört sich gut an.« Er seufzte. »Dann sagen wir jetzt Lebewohl, oder?« Ray legte zaghaft seine Hand auf Jils Knie. Die Berührung fühlte sich
Weitere Kostenlose Bücher