Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
den nötigen Mut aufzubringen. Jedoch schenkten sie der Durchreiche keinerlei Beachtung. Im Vorfeld hatte sie nämlich bereits einige unangenehme Minuten damit zugebracht, den Verschluss der zweiten Klappe aufzubrechen, damit sie beide von ihrer Seite öffnen konnte. Eine Lampe im passe-muraille wäre tödlich.
»Mistress Floria Weiße Hand«, sagte eine Männerstimme von der anderen Seite. Er stand direkt hinter der Wand, hatte sich für sein Publikum, zu dem wohl auch sie zählte, in Positur gestellt. »Lichtgeborene, ich weiß, dass Sie da sind. Ich bin Sachevar, Herzog von Mycene.«
Patriarch des herausragendsten und ehrgeizigsten aller Herzogtümer, dessen Geschlecht jahrhundertelang den Erzherzog gestellt hatte, bevor das Amt an die Plantageters verloren ging – nachdem die Politik der Mycenes zu einem Aufstand der Grenzlande und zu einem Bürgerkrieg geführt hatte. Unter den Erzherzögen der Mycenes lebten die Nachtgeborenen und die Lichtgeborenen streng voneinander getrennt; Minhorne wurde erst unter den Plantageters zu der Stadt, die sie war.
»Sie haben hier um Freistatt ersucht, weil Prinz Fejelis ihre Verhaftung in Zusammenhang mit der Ermordung seines Vaters angeordnet hat. Vladimer Plantageter war nicht befugt, Ihnen Zuflucht zu gewähren, und tat dies ohne das Wissen seines Bruders.«
Das klang gar nicht gut, dachte Floria.
»Kraft meiner Autorität als Mitglied des Regentschaftsrates – einberufen wegen der Regierungsunfähigkeit Erzherzog Sejanus Plantageters – bin ich gekommen, um Ihr Gesuch einer erneuten Prüfung zu unterziehen.«
Das klang sogar noch schlimmer.
Sie ließ die Lampe und ihr Rapier einsatzbereit neben der Durchreiche liegen und schlich lautlos zum Kopfende des Bettes. »Woher rührt denn seine Regierungsunfähigkeit?« Noch während sie sprach, veränderte sie ihre Position.
»Magie.« Das war alles, was zurückkam.
Wessen? Und wie regierungsunfähig war er? »Ich wünsche ihm baldige Genesung«, murmelte sie im Gehen.
»Seine Ärzte haben nur wenig Hoffnung, dass er überlebt.«
Unwillkürlich hielt sie inmitten ihres Gleitschritts inne. Das war eine höchst unerfreuliche Mitteilung – ganz abgesehen davon, welche Folgen die Offenheit ihrer Wärter für sie haben mochte. Der Erzherzog und seine Gemahlin hatten drei Töchter und einen Sohn. Da die absurden Konventionen der Nachtgeborenen auf einem männlichen Thronerben bestanden, würde Plantageters Tod die Regierungsgewalt in die Hände eines Kindes und seines Regentschaftsrates legen – eines Rates, der sich seit vierzig Jahren nicht verändert hatte. Und der Herzog von Imbré, die mäßigende Kraft des früheren Rates, war inzwischen alt geworden.
Mycene hätte ihr – einer bloßen Wachfrau des lichtgeborenen Hofes – das gewiss nicht ohne Grund erzählt. Magie … wollte er damit andeuten, dass sie die Lichtgeborenen verdächtigten?
»Hoheit«, sagte sie, »haben Sie von Fürst Vladimer Bericht erhalten?«
»Fürst Vladimer hat einen Nervenzusammenbruch erlitten und wurde zu seinem eigenen Schutz in Sicherheitsverwahrung genommen.«
»Fürst Vladimer ist der Ansicht, dass viele der jüngsten Vorfälle auf Aktivitäten schattengeborener Agenten zurückzuführen sind.«
Der Herzog spottete verächtlich: »Untreue, Verlogenheit, Eigennutz, Korruption, Brandstiftung und Mord – wir müssen wohl keine Magie voraussetzen, um ganz und gar gewöhnliche Untugenden erklären zu wollen, und schon gar keine, von der noch nie jemand gehört hat, noch dazu von einer Rasse, die nichts als Bestien hervorbringt. Nein, meine Dame« – und diese nachtgeborene Höflichkeitsform war aus seinem Munde untrüglich eine Beleidigung – »unsere Feinde leben mit uns Tür an Tür.«
»Das hört sich nicht gut an, Hoheit«, sagte sie leise und durchschritt den Raum in einem langsamen Bogen. »Beschuldigen Sie etwa die Lichtgeborenen?«
Schweigen. Mutter Aller, wusste Fejelis bereits, dass er es statt mit dem verlässlichen Regiment von Sejanus Plantageter nun mit einem Regentschaftsrat zu tun bekam, der die Entscheidungsgewalt rücksichtslos an sich gerissen hatte und der die Lichtgeborenen von vornherein aburteilte? Als sie von Vladimer Plantageter befragt wurde, hatte er jedenfalls keinerlei Anzeichen für einen drohenden Zusammenbruch gezeigt.
Falls der Prinz davon noch nichts wusste, musste er es erfahren.
Wie sollte Floria den Rat nur dazu bringen, sie freizulassen? Scheinbar resigniert sagte sie: »Wenn Sie also die
Weitere Kostenlose Bücher