Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
es ihn kostete, es ohne Eile zu tun. »Ich kann Ihnen … ich werde Ihnen Zeit geben, von Ihrer Mutter Abschied zu nehmen, Briefe zu schreiben und Ihre Angelegenheiten zu regeln. Wenn Sie einen Arzt brauchen, lassen Sie es mich wissen. Wenn Sie einen Priester brauchen, so haben wir einen im Palast. Ich gebe Ihnen mein Wort – soweit es in meiner Macht liegt: Ihre Familie wird nicht darunter leiden, dass Sie als Hexe verurteilt wurden.«
Doch liegt es nicht in Ihrer Macht , dachte sie. Das sagten Sie ja bereits. Ebenso wenig liegt es in Ihrer Macht, mir zuzusichern, was ich mir am meisten wünsche, nämlich von meinem Mann und meinen Töchtern Abschied zu nehmen. Ich frage mich, ob ihr versucht habt, euch gegenseitig zu versichern, dass es eine Gnade sei, mich nicht mit den Meinen sprechen zu lassen. Oder eine Gnade, dass Sie mir eine schnelle Hinrichtung zugedacht haben, nicht den langsamen Tod durch Lichtschwerter.
Ich mag Ihre Gnadenbezeugungen nicht, meine Herren.
»Euer Gnaden«, sagte sie entschlossener und nahm die Hände vom Gesicht. »Würden Sie mir bitte etwas verraten? Wie haben Sie abgestimmt?«
»Ich habe mich der Stimme enthalten«, sagte er ganz leise.
10
Telmaine
Sie schrieb keine Abschiedsbriefe, sondern vertraute ihrer Mutter Nachrichten für Balthasar und die Kinder an. Wären sie allein gewesen, hätte sie ihr auch eine Nachricht für Ishmael mitgegeben, doch Mycenes Wachen wollten nicht gehen.
Sie berührten sich erst im letzten Moment, als die Wachen des Erzherzogs kamen, um sie zur Hinrichtung zu führen. Dann gab Telmaine ihrer Mutter einen Kuss, und ihre Mutter legte eine Hand an Telmaines Gesicht. Mit liebevollen Gedanken versuchte die Mutter, den unerträglichen Aufruhr in ihrem Herzen und ihre Erinnerungen an den eigenen Bruder zu verdrängen, da diese ihr fast unerträglich waren. »Sorge gut für meine Kinder, Mama«, sagte sie heiser. »Und für Balthasar.«
Das tapfere Lächeln ihrer Mutter bebte. »Natürlich, mein liebes Mädchen. Obwohl ich doch sehnlichst wünschte, er hätte dieser Frau nicht seine Tür geöffnet.«
»Oh, ich auch«, sagte Telmaine. »Aber hätte er es nicht getan, wäre er nicht mein Balthasar gewesen. Sorge bitte gut für ihn. Niemand soll ihm eine Schuld geben. Er hat mich sehr glücklich gemacht während unserer Ehe.«
Ihre Mutter schloss sie in die Arme, umfing sie mit einer Inbrunst, die Telmaine diesem kleinen, friedfertigen Körper gar nicht zugetraut hatte. »Es ist so ungerecht «, sagte sie und sparte sich dabei die Mühe, leise zu sprechen.
»Bete für mich, Mama«, sagte Telmaine gerade laut genug, dass sie zu hören war, und dann hauchte sie, als verließe sie die Stimme: »Ich will versuchen zu fliehen, wenn ich kann.«
Auf dem langen Weg durch die Korridore zu ihrer Hinrichtungsstätte entdeckte sie, was Ishmael bereits wusste. Für den Entschluss, sich zu wehren, war Mut vonnöten, der seinerseits aber auch Mut verlieh.
Man führte sie in jenen Raum, den Vladimer ihr gezeigt hatte. Die Sonne, die auf die Außenmauern schien, hatte die Luft darin aufgewärmt. Die Hinrichtungskammer verfügte über einen nackten Holzfußboden und einen schlichten Holzstuhl ohne Kissen oder Polster – damit die Überreste sich leichter entfernen ließen, wie Telmaine begriff. Sie schnappte nach Luft und zögerte, als die Wachen ihr befahlen, sich zu setzen. Doch ihr geschwächter Zustand entschied in ihrem Namen, was vermutlich auch vernünftig war, selbst wenn ihre Haut vor dem Kontakt mit dem Holz zurückwich. Anderenfalls hätten ihr die Wachen vielleicht mit Gewalt Ketten angelegt. Sie hatte die Männer bisher kaum wahrgenommen. Während sie ihnen lauschte, fragte sie sich, was diese eigentlich dazu trieb, eine Frau – wenn auch eine Magierin – dem Tode zuzuführen. Phineas Broome war während der letzten Stunden auffällig abwesend gewesen. Hatte er Einwände dagegen erhoben, dass man sie – eine Provokation, aber dennoch eine Magierin – zum Tode verurteilt hatte? Oder war es eher ein Zeichen von Zartgefühl seinerseits? Oder Feigheit, schlicht und ergreifend?
Sie konnte nur hoffen, dass er sich nicht irgendwo in der Nähe aufhielt, weil er es sich anders überlegt hatte, denn sie wusste keinen anderen Ausweg aus dieser Falle als mithilfe der Magie.
Sobald sich die Tür hinter den Wächtern schloss, sprang sie vom Stuhl auf und sondierte den Raum. Die Wände waren massiv, doch an der Decke gab es eine große Aussparung, versiegelt wie die
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