Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
vor Sonnenuntergang. Damit die Nachtgeborenen noch nicht auf den Straßen sind.«
»Ach, eine Spur sozialer Verantwortung«, bemerkte Vladimer mit seinem leidigen bissigen Humor. »Oder eine ausgefeilte Taktik, da die Lichtgeborenen am wehrlosesten sind, wenn ihre Mauern nach Einbruch der Dunkelheit durchbrochen werden. Aber wie wollen sie ihren Plan tagsüber in die Tat umsetzen?«
»Es hat etwas mit Herzog Kalamays Anwesen auf der anderen Seite des Flusses zu tun.«
»Befindet sich dort das Munitionslager?«
»Nein, ich denke, dort werden die Waffen gelagert.« Diese Information hatte sie keinem klaren Gedanken entnommen, sondern einer Ansammlung von Eindrücken und Empfindungen: eine steinerne Krypta, die nach Schwarzpulver und Eisen roch. Freudige Erwartung der ersten Salve, die fast etwas Sexuelles an sich hatte.
»Ich frage mich«, sagte Vladimer langsam, »wie sie sich Zugang zu einem Turm verschaffen wollen, der voller Magier ist.«
»Sie glauben, die lichtgeborenen Magier schenken den nicht-magiebegabten Nachtgeborenen keinerlei Aufmerksamkeit. Weil sie unsere Maschinen und Kriegsgeräte für Spielzeug halten.«
»Die Magier im Turm vielleicht, aber die Leibgarde des Prinzen befasst sich mit weitaus weltlicheren Bedrohungen.«
Wieder schluckte sie. »Mycene steht außerdem in Kontakt mit einem nachtgeborenen Magier, der ihm geholfen hat.«
»Aha«, sagte Vladimer bedächtig. Dann fegte sein Sonar über sie hinweg, doch was er erwartete, wusste sie nicht. »Und der Name?«
»Der ist ihm nicht bekannt, obwohl er alles versucht hat, ihn herauszufinden.«
»Nachtgeborener«, sagte Vladimer nachdenklich, »oder Schattengeborener; würde er den Unterschied bemerken? Verbirgt sich hier irgendeine geheime Absprache mit den Lichtgeborenen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie beklommen.
»Aber die Geschütze befinden sich auf Kalamays Grund und Boden, am Hang auf der anderen Seite des Flusses, in Schussweite des Turms. Sie haben also die Reichweite, den passenden Winkel, die richtige Neigung und zudem die Präzisionsmaschinerie, um das alles zu kontrollieren. Sie werden es vorher irgendwo getestet haben. Mit den ersten Salven müssen sie allerdings einen richtigen Treffer landen; da sie es mit Magiern zu tun haben, bleibt ihnen kein zweiter Versuch.« Plötzlich hielt er inne und zitterte. Ob vor Angst oder wegen des Fiebers, wusste sie nicht.
»Fürst Vladimer«, sagte sie im Aufstehen.
»Lassen Sie mich«, sagte er barsch und hielt sich den rechten Ellbogen.
»Ich wünschte, ich hätte es nicht getan«, flüsterte sie. »Ich fühle mich abscheulich.«
»Eine derartige Haltung stinkt nach Selbstgerechtigkeit«, sagte er heiser. »Wäre es Ihnen etwa lieber, wir würden von dieser Verschwörung erst erfahren, wenn sie die erste Salve abfeuern?«
»Aber wie lange soll man denn so weitermachen, Fürst Vladimer?«, fragte sie gequält, wohlwissend um die Sinnlosigkeit, ausgerechnet bei diesem Mann Trost zu suchen.
Ein paar Herzschläge lang herrschte Stille. »Man macht immer weiter, Prinzessin Telmaine«, antwortete er schließlich mit kaum hörbarer Stimme. »Ich vermute, Bastard in einer adeligen Familie zu sein, unterscheidet sich nicht allzu sehr von der Situation einer Frau«, sinnierte Vladimer, wobei er Telmaine geflissentlich ignorierte. »Jegliches Treiben jenseits der Stille und Dunkelheit stellt eine Bedrohung dar. Wäre ich damals schlauer oder besser beraten gewesen, hätte ich den Dummen gespielt – so wie eine Dame gezwungen ist, das Dummchen zu spielen – und mir viele Widrigkeiten erspart. Zu meinem Glück hat Sejanus nicht auf seine Berater gehört und mich wie einen Bruder und Verbündeten behandelt – und nicht wie eine Schande oder einen möglichen Thronräuber. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, solange die Bedrohung seines Ansehens und Staates fortbesteht, werde ich immer weitermachen.«
»Ich kann das nicht«, flüsterte sie.
»Können Sie nicht? Sie haben die konventionellen Moralvorstellungen doch bereits zugunsten Ihres Ehemannes, Ihrer Töchter und Ishmael di Studiers hinter sich gelassen. Der Staat und ich sind lediglich beiläufige Nutznießer. Die Liebe, Prinzessin Telmaine, ist nicht dieses zarte Gefühl, wie es in der romantischen Literatur dargestellt wird. Ob man die Liebe nun beim Namen nennt oder nicht, sie bringt die Leute dazu, Dinge zu wagen und zu tun, die sie für undenkbar hielten. Ich schlage vor, Verehrteste, dass Sie Ihre Töchter besuchen und
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