Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
Augenblick lang sah Großonkel Merry ernstlich erschrocken aus. »Das wusste ich nicht. Dann werden die andern es auch beobachtet haben — sie werden genau an der Stelle tauchen und sich mit dem Manuskript davonmachen können, bevor sie noch jemand bemerkt hat.«
»Nein«, sagte Jane, ganz rot vor Ernsthaftigkeit. »Das ist ja das Gute, Großonkel Merry. Weißt du, wir haben den Graben nur bemerkt, weil wir ihn überqueren mussten, als das Wasser ganz draußen war. Als wir auf dem Rückweg zum Strand waren, hatte das Wasser ihn schon bedeckt. Mr Withers ist hineingefallen, hat es aber nicht bemerkt. Wenn es also noch einmal einen so niedrigen Wasserstand gibt, könnten wir diesen Graben suchen und das zweite Manuskript wiederfinden. Aber der Feind kann das nicht, denn er weiß gar nichts von dem Graben.«
»Können wir nicht zurückgehen?«, fragte Simon eifrig. »Können wir nicht wieder zu dieser Stelle hin und jemanden danach tauchen lassen?«
»Eines Tages vielleicht«, sagte Großonkel Merry, aber bevor er weitersprechen konnte, hatte sich eine Gruppe von Herren aus der murmelnden Menge an ihn gewandt: »Ah, Professor Lyon! Wenn Sie einen Augenblick Zeit hätten: Dürfte ich Ihnen Dr. Theodore Reisenstatz vorstellen — «
Ein eifriger kleiner Mann mit einem Spitzbart nahm Großonkel Merrys Hand und sagte: »Ich bin einer Ihrer großen Bewunderer. Merriman Lyon ist ein hochgeschätzter Name in meinem Lande.«
»Kommt«, sagte Simon leise, und die Kinder schlüpften an den Rand der Menge, während die kahlen Köpfe und die grauen Bärte wackelten und feierlich schnatterten. Sie schauten über den schimmernden Marmorboden zu der einsamen Vitrine hin, in der der Gral wie ein goldener Stern leuchtete.
Barney starrte in die Luft, als erwache er aus einer Betäubung. »Wach auf«, sagte Jane munter.
Barney sagte langsam: »Ist das sein wirklicher Name?«
»Wessen Name?«
»Großonkel Merry — heißt er wirklich Merriman?«
»Aber natürlich — die Abkürzung dafür ist Merry.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Barney. »Ich dachte immer, Merry wäre ein Spitzname. Merriman Lyon ...«
»Ein komischer Name, nicht wahr«, sagte Simon leichthin. »Kommt, wir wollen uns den Gral noch einmal ansehen. Ich will noch einmal lesen, was da über uns steht.«
Er schob sich mit Jane am Rand der Menge entlang, aber Barney blieb stehen. »Merriman Lyon«, sagte er leise vor sich hin. »Merry Lyon ... Merlion Merlin ...«
Er schaute dorthin, wo am anderen Ende des Saals Großonkel Merrys weißes Haupt die andern überragte, leicht geneigt, während er jemandem zuhörte. Das kantige braune Gesicht mit den tief liegenden, beschatteten, geheimnisvollen Augen über der kühnen Nase glich mehr denn je einer uralten Schnitzerei.
»Nein«, sagte Barney laut und schüttelte sich. »Es ist unmöglich.« Aber während er Simon und Jane folgte, blickte er manchmal zurück und wunderte sich. Und Großonkel Merry wandte, als spürte er es, den Kopf und schaute ihm einen Augenblick lang über die Menge hinweg voll ins Gesicht; er lächelte ganz leise und schaute dann wieder weg.
Über die ganze ungeheure Länge der Galerie reihten sich auf dem glänzenden Marmorboden gleich große Vitrinen aneinander. Darin ruhten Töpfe, Münzen, seltsam verdrehte Stücke von Leder oder Bronze oder Holz wie aufgespießte Schmetterlinge.
Die Vitrine, die den Gral enthielt, war höher als die andern, eine hohe Glasschachtel, die in der Mitte der großen Galerie einen Ehrenplatz einnahm, und darin war nichts als der eine glänzende Becher. Man hatte ihn gereinigt, sodass das Gold strahlte, und ihn auf einen schweren schwarzen Sockel gestellt. Auf einem hübschen Silbertäfelchen darunter waren die Worte eingraviert: »Goldkelch eines unbekannten keltischen Meisters, schätzungsweise aus dem sechsten Jahrhundert, gefunden in Trewissick in Süd-Cornwall. Geschenk von Simon, Jane und Barnabas Drew.«
Sie bewegten sich langsam um die Vitrine herum und betrachteten den mit Gravuren versehenen Gral, und jetzt wo das gehämmerte Gold frei war von dem Schmutz, den die Jahrhunderte in der Höhle unter Kenmare Head darauf abgelagert hatten, konnte man jede Linie der Gravierung deutlich sehen.
Sie sahen, dass der äußere Mantel in fünf Felder geteilt war. Vier der fünf Felder waren mit Darstellungen kämpfender Männer bedeckt: Sie schwangen Schwerter und Speere, duckten sich hinter Schilde. Sie waren nicht in Rüstungen gekleidet, sondern in seltsame
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