Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
diesen Vers wählte. »O Eis und Schnee, preiset den Herrn und verherrlicht ihn in Ewigkeit.«
Plötzlich merkte Will, dass er zitterte, aber nicht wegen der Worte. Auch nicht, weil ihm kalt war. Ihn schwindelte; er hielt sich einen Augenblick am Geländer der Empore; ein schriller Missklang zerriss die Melodie und dröhnte in seinen Ohren. Dann verklang er wieder, die Musik war die alte, aber Will war erschüttert und fror.
»O Licht und Finsternis«, sang James und starrte ihn an
—»Was ist denn? Setz dich mal —
und verherrlicht ihn in Ewigkeit.«
Aber Will schüttelte ungeduldig den Kopf und für den Rest des Gottesdienstes stand er fest auf den Beinen, sang, setzte sich, kniete und redete sich ein, dass überhaupt nichts gewesen sei. Aber dann kam wieder das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, ein Gefühl der Disharmonie.
Dies geschah nur noch einmal, gegen Ende des Gottesdienstes. Mr. Beaumont sprach mit dröhnender Stimme das Gebet des heiligen Christostomos: » ... der du gesagt hast, dass, wenn zwei oder drei in deinem Namen versammelt sind, du ihre Bitten gewähren wirst ...« In Wills Kopf brach plötzlich ein schrecklicher Lärm aus, ein Kreischen und Heulen statt der vertrauten Kadenzen. Er hatte es schon früher gehört. Es war das Geheul, mit dem die Finsternis einen Ort belagert; er hatte es draußen vor der Halle gehört, wo er mit Merriman und der Alten Dame gesessen hatte, in einem unbekannten Jahrhundert. Aber in einer Kirche, sagte sich Will, der anglikanische Chorknabe, zweifelnd, man kann es doch bestimmt nicht innerhalb einer Kirche hören. Ach, sagte Will, der Uralte, traurig, jede Kirche einer jeden Religion ist ihrem Angriff ausgesetzt, denn an diesen Orten denken Menschen über das Licht und die Finsternis nach. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, während der Lärm auf ihn eindrang — dann war es wieder still und des Pfarrers Stimme dröhnte laut wie zuvor.
Will sah sich schnell um, aber offenbar hatte sonst niemand etwas bemerkt. Durch die Falten seines Chorhemdes hindurch fasste er die drei Zeichen an seinem Gürtel, aber er fühlte weder Kälte noch Wärme. Er erriet, dass für die warnende Kraft der Zeichen eine Kirche eine Art Niemandsland war; darum war eine Warnung vor dem Unheil nicht notwendig. Aber wenn das Unheil draußen lauerte ...?
Der Gottesdienst war zu Ende, alle sangen aus voller Brust in glücklicher Weihnachtsinbrunst »Kommt her, o ihr Gläubigen«, und der Chor zog von der Empore herunter und wieder zum Altar. Dann dröhnte der Segen Mr. Beaumonts über die Köpfe der Gemeinde »... die Liebe Gottes und der Beistand des Heiligen Geistes ...« Aber die Worte konnten Will keinen Frieden bringen, denn er wusste, dass etwas nicht stimmte, dass etwas, das zur Finsternis gehörte, draußen lauerte und dass, wenn der Augenblick gekommen war, er ihm allein entgegentreten musste, ohne Hilfe.
Er sah, wie einer nach dem anderen strahlend aus der Kirche trat, wie sie, einander zunickend, ihre Schirme ergriffen und den Mantelkragen hoch schlugen. Er sah den lustigen Mr. Hutton, den pensionierten Direktor, seinen Autoschlüssel um den Finger wirbeln, während er die winzige Miss Bell mit herzlichen Einladungen zum Mitfahren überschüttete; und hinter ihm kam Mrs. Hutton wie eine pelzumhüllte Galleonsfigur dahergesegelt und tat dasselbe mit der hinkenden Mrs. Pettigrew, der Postmeisterin. Große und kleine Dorfkinder kamen aus der Tür gestürzt, entwischten ihren geputzten Müttern und liefen davon, um zu ihren Schneeballschlachten und zum Weihnachtsputer zu kommen. Die düstere Mrs. Horniman, die eifrig dabei war, Unheil vorauszusagen, kam mit Mrs. Stanton und Mary herausgestapft. Will sah, dass Mary versuchte, ihr Kichern zu unterdrücken und einen Schritt zurückblieb, um sich Mrs. Dawson und ihrer verheirateten Tochter anzuschließen, deren fünfjähriges Söhnchen übermütig in seinen neuen glänzenden Cowboystiefeln herumsprang.
Auch der Chor, in Mäntel und Schals vermummt, machte sich auf den Weg. Man rief sich »Fröhliche Weihnachten« zu und »Wir sehen uns am Sonntag, Herr Pfarrer!« Der Pfarrer hatte mit Paul über Musik gesprochen, er lächelte und winkte. Die Kirche begann sich zu leeren, während Will noch auf seinen Bruder wartete. Er fühlte ein Prickeln im Nacken, wie die Elektrizität in der Luft vor einem schweren Gewitter.
Immer noch plaudernd, streckte der Pfarrer geistesabwesend die Hand aus und knipste die Lichter in der Kirche aus, die
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