Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
schmerzgeplagten Kapitän Schritt zu halten. Unten, wo die abschüssige Straße auf den Kai mündete, zog der alte Mann sie vorsichtig in den Schatten eines Warenschuppens an der Rückseite des Hafens. Dicht aneinander geschmiegt standen sie dort im scharfen Wind, der von der See her blies. Keine zwanzig Meter entfernt sahen sie den dunklen Maler am Rand des Wassers; der Lichtschein, der ihn umgab, machte ihn deutlich sichtbar.
Als Jane ihn so sah, blieb ihr fast der Atem stehen, und von den anderen hörte sie das gleiche instinktive Atemholen. Denn der Maler hatte keine Taschenlampe bei sich, von der der Lichtfleck, der ihn umgab, ausgegangen wäre. Das Licht ging von seinem Bild aus.
Grün und blau und gelb glühte es in der Dunkelheit, es drehte, wand sich und brodelte wie in einem Schlangennest. Jane, die es zum ersten Mal sah, spürte sofort einen tiefen Widerwillen gegen das Bild, gegen die Formen, die Farben und die Stimmung, und doch konnte sie den Blick nicht abwenden. Der Mann malte immer noch, selbst jetzt. Der Wind zerrte an seinen Kleidern, drückte die Staffelei fast um, sodass der Maler sie mit einer Hand halten musste; trotzdem schmierte er immer wieder wie von Sinnen mit seinem Pinsel diese seltsamen, schrecklichen Farben auf die Leinwand, und für Janes benommenen Blick sah es so aus, als kämen die Farben aus dem Pinsel selbst, als machte er nie eine Pause, um ihn einzutauchen.
»Es ist scheußlich!«, sagte Barney mit Nachdruck. Er sprach unwillkürlich ganz laut, aber der Wind riss ihm die Worte aus dem Mund, sobald er sie geäußert hatte. Der Maler, der gegen den Wind stand, hätte ihn nicht gehört, auch wenn er aus vollem Hals geschrien hätte.
»Jetzt verstehe ich!« Kapitän Toms stampfte plötzlich mit dem Stock auf den Boden und starrte das Bild an. »Das ist es. Jetzt verstehe ich! Er hat seine Zaubersprüche gemalt! Mana und Reck und Lir... die Kraft ist ganz in dem Bild! Ich hatte vergessen, dass das möglich ist. Jetzt verstehe ich... jetzt verstehe ich... aber zu spät. Zu spät...«
Jane sagte erschrocken in den Wind hinein: »Zu spät?«
Der Wind heulte ihnen noch lauter in den Ohren, peitschte ihre Gesichter, sprühte ihnen salzigen Gischt in die Augen. Es regnete nicht, es blitzte und donnerte nicht; sie hörten nur den Wind und das Klatschen der Wellen. Sie taumelten gegen die Mauer zurück, wurden vom Sturm gegen sie gedrückt; draußen auf dem Kai stemmte der Maler seine breiten Schultern gegen den Wind, um sich aufrecht zu halten. Er schleuderte den Pinsel von sich, Farben und Papier wurden vom Wind mitgerissen, aber die seltsam glühende Leinwand hielt er fest in den Händen. Er hob sie hoch über seinen Kopf und schrie ein paar Worte in einer Sprache, die die Kinder nicht verstanden.
Und plötzlich hörten sie einen Laut, wie sie ihn nie zuvor von der See gehört hatten: ein lautes, saugendes, zischendes Geräusch, das den ganzen kleinen Hafen erfüllte. Der Wind legte sich. Plötzlich roch man die See ganz stark. Es war kein Modergeruch, sondern ein Geruch nach Gischt und Wellen und Fischen und Tang und Teer und nassem Sand und Muscheln.
Für einen Augenblick trat der Mond hinter einer zerfetzten Wolke hervor und sie sahen etwas Unmögliches: Zwei große, quer laufende Wellen rollten an den Seiten des Hafens hinauf. Und aus dem Hafenwasser hob sich eine hohe dunkle Gestalt, doppelt so groß wie ein Mensch, und neigte sich zu dem Maler und brachte einen noch überwältigenderen Geruch nach See mit sich.
Der Maler hob die Arme mit dem Bild und hielt es der großen schwarzen Gestalt entgegen, und mit einer Stimme, die sich vor Erregung überschlug, rief er: »Bleib, bleib, ich befehle es dir.«
Kapitän Toms sprach leise und nachdenklich, halb zu sich selbst. »Halte Ausschau nach der
Greenwitch«,
sagte er.
Kapitel 9
Sie drängten sich im dunklen Torweg des Lagerhauses aneinander und beobachteten den Hafen. Es ging jetzt kein Wind mehr, und die plötzliche Stille, die nur vom Rauschen der Wellen unterbrochen wurde, war beängstigend. Von der höher gelegenen Hauptstraße des Dorfes drang gelegentlich das Murmeln eines Motors zu ihnen, aber die Kinder achteten nicht darauf. Nichts auf der Welt schien wirklich außer diesem Ding, das da vor ihnen aufragte und sich immer höher aus der schwankenden See herausreckte.
Man konnte das Ding nicht deutlich erkennen. Es hatte keine Züge, keinen festen Umriss, keine erkennbare Form. Sie nahmen nur eine große Masse
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