Lichtjahreweit
Philip?«
Jaumann zuckte die Schulter. »Ich weiß es nicht. Es ist nichts zu sehen. Es ist zu dunkel.«
»Das Kind«, sagte Katrin plötzlich. Ein böser Zug entstand um ihren Mund. »Es ist das Kind. Es hat irgend etwas angestellt.« Sie atmete schwer. »Vielleicht hat es Feuer gelegt. Bestimmt hat es irgend etwas in Brand gesteckt. Ich wußte es! In diesem Kind steckt der Teufel!«
»Unsinn«, wies Jaumann sie barsch zurecht. »Das ist eine fixe Idee von dir.«
Er wandte sich ab. Katrin hielt ihn fest.
»Wo willst du hin?«
»Nach draußen«, sagte er. »Auf die Straße. Ich werde nachsehen, was passiert ist.«
Katrin lief an ihm vorbei. »Ich komme mit. Ich bleibe nicht allein in dieser Wohnung. Nicht, wenn dieses mörderische Kind in der Nacht herumschleicht und Feuer legt.«
Jaumann verzichtete auf eine Erwiderung. Mit einem leisen Seufzer ging er in den Korridor, streifte hastig Schuhe und Mantel über und folgte ihr dann ins Treppenhaus. Im Treppenhaus war es seltsam still. Ihre Schritte hallten, als sie zum Aufzug hasteten, und Jaumann sah sich schuldbewußt um. Aber die Türen blieben verschlossen. Kein Rentner kam herausgeschlurft, um sich über den Lärm zu beschweren. Wahrscheinlich waren sie alle draußen auf der Straße.
Vor dem Aufzug blieb Katrin plötzlich stehen. Im Neonlicht der Treppenhausbeleuchtung war ihr Gesicht kalkweiß.
»Wir sollten die Treppe nehmen«, flüsterte sie. »Der Aufzug … Es ist so leicht, den Aufzug lahmzulegen. Wir könnten steckenbleiben, und dieses Kind …«
Jaumann fluchte und hieb mit der Faust auf den Rufknopf. »Nun ist es aber genug«, fauchte er. »Hör auf mit diesem Unsinn!«
Katrin kniff die Lippen zusammen. Ihre Blicke wanderten unstet hin und her.
Jaumann sah sie an und dachte: Sie meint es ernst. Sie hat wirklich Angst vor diesem Kind.
Der Aufzug kam. In der engen Kabine waren Katrins Atemzüge laut. »Es war ein Fehler, den Straßenverkehr auf Computersteuerung umzustellen«, sagte sie zusammenhanglos. »Ein Fehler. Wegen der Kinder.«
»Der Kinder?« wiederholte Jaumann verwirrt.
»Als die Autos noch von Menschen gesteuert wurden«, sagte Katrin, »gab es Tausende Verkehrstote im Jahr. Viele davon waren Kinder. Es waren die wildesten Kinder, die totgefahren wurden, weißt du, die gefährlichsten.«
»Hör auf«, schrie Jaumann. »Hör auf, so zu reden!«
»Schrei ruhig. Du wirst es schon noch merken. Du wirst schon sehen. Warte nur, wenn du älter bist. Und wenn dieses Kind älter ist.« Sie nickte. »Es wird dich hassen. Und dann …«
Der Lift hielt. Jaumann verließ die Kabine und eilte hinaus auf die Straße. Die Luft war kühl und von Haß und Geschrei vergiftet. Graue Gesichter drehten sich Jaumann und Katrin zu. Falten, Runzeln und graue Haare. Knopfaugen spiegelten das Licht der Straßenlaternen. Dreißig Meter weiter drängten sich die Greise vor einem Haus und krähten zornig durcheinander.
Jaumann sah sich suchend um und entdeckte nicht weit den alten Zerrgiebel, den Hausmeister, einen dürren Senior mit Ziegenbart und Halbglatze, der schimpfend mit seinem Stock fuchtelte. Ein schweigsamer, mürrischer Mann. Aber jetzt funkelten seine Augen. Sein Gesicht war verzerrt.
Jaumann ging zu ihm. Katrin hielt sich dicht an seiner Seite.
»Was ist los?« fragte Jaumann.
Zerrgiebel senkte seinen Stock.
»Terroristen«, krächzte er. »Es sind drei. Meyer-Lansky hat sie entdeckt. Meyer-Lansky aus Nummer Vier.« Er lachte meckernd. »Auf die Panther ist Verlaß. Gleich nach dem Anschlag heute morgen haben sie in der Straße einen Wachdienst organisiert. Die Juniacs sind sofort entdeckt worden. Wir haben sie auf den ersten Metern in Ruhe gelassen und dann die Straße abgesperrt. Verdammte Bastarde!«
»Juniacs!« keuchte Katrin. »Also doch! Ich wußte es. Ich wußte es!«
Jaumann runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie, daß es Juniacs sind?«
»Woher!« Zerrgiebel schnaufte. »Es sind Jugendliche. Das ist Beweis genug. Nur Juniacs treiben sich in der Nacht in den Seniorenvierteln herum.«
»Du wartest hier«, sagte Jaumann zu Katrin. »Verstanden? Du wartest hier und ich sehe nach.« Er sah Zerrgiebel an. Der alte Mann lächelte dünn. »Hat man die Polizei benachrichtigt?«
»Wir brauchen keine Polizei«, brummte Zerrgiebel. »Wir werden allein mit diesen verfluchten Terroristen fertig.«
Jaumann lief los. Auf die Menge zu. Das Geschrei schwoll an. Der laue Abendwind roch nach Alter, nach Veilchenparfüm, ranzigem Schweiß und
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