Lichtjahreweit
Zigarrenrauch. Dann kämpfte er sich durch die Menge und spürte Haß und Mordlust im Geschrei und in der bösen Blässe der Gesichter.
»Bitte«, keuchte er, »lassen Sie mich durch. Bitte.«
Widerwillig machte man ihm Platz.
Dann sah er sie.
Die drei. Junge Burschen, nicht älter als sechzehn oder siebzehn. In dünner, bunter Sommerkleidung. Mit dem Rücken an einer Hauswand. Seite an Seite standen sie mit geballten Fäusten und verschreckten Augen da und starrten in greise, haßerfüllte Gesichter. Und duckten sich, wenn Stöcke nach ihnen schlugen.
»Nicht!« rief Jaumann. »Laßt sie in Ruhe!«
Eine dicke, rotgesichtige Frau stieß ihn zurück. Faltige Hände zerrten an ihm. Knöcherne Hände wie Klauen zogen ihn zurück. Tritte. Drohungen.
»Hört auf!« brüllte er.
»Verschwinden Sie«, fauchte ein Mann, hohlwangig, kahl, mit hektisch gerötetem Gesicht. »Sie haben hier nichts zu suchen. Verschwinden Sie!« Der Mann versetzte ihm einen Faustschlag.
Jaumann stolperte und spürte weitere Knüffe. Flüche und Schimpfworte begleiteten die Schläge, die Tritte. Die Menge stieß ihn wie einen Fremdkörper ab. Er atmete schwer, als er wieder freien Raum erreicht hatte. Katrin eilte zu ihm.
»Philip! Bist du verletzt! Was ist geschehen? Warum haben sie dich geschlagen? Philip!«
Jaumann schüttelte den Kopf. »Mein Gott«, flüsterte er. Ihm wurde schlecht. »Mein Gott, sie müssen verrückt sein! Sie wollen sie umbringen!«
»Die Juniacs?« fragte Katrin atemlos.
»Sie können nicht älter als sechzehn sein«, sagte Jaumann. »Sie haben ihnen nichts getan, aber sie wollen sie umbringen.« Er fuhr herum. »Wir müssen die Polizei …«
Er verstummte.
Zerrgiebel und ein halbes Dutzend anderer alter Männer kamen näher, umringten ihn. Aus der Menge kam ein Schrei. Nicht krächzend: Jung und hell. Der Schrei brach ab. Triumphierendes Geheul verschluckte ihn.
»Sie sollten in Ihre Wohnung gehen, Jaumann«, sagte Zerrgiebel langsam. »Nehmen Sie Ihre Frau und gehen Sie in Ihre Wohnung. Gehen Sie.«
Katrin ergriff Jaumanns Hand. »Komm«, zischte sie. »Komm schon.«
Widerstandslos ließ er sich von ihr fortziehen. Die alten Männer blieben zurück. Als er ins Haus stolperte, sah er sich noch einmal um, sah direkt in Zerrgiebels Augen. Sie waren klein und drohend. Wie die Augen eines Raubvogels. Dumpf fiel die Tür ins Schloß.
»Sie bringen sie um«, sagte Jaumann fassungslos. »Sie bringen die Jungen einfach um!«
Katrin stieß ihn zum Lift. »Wir haben nichts gesehen!« preßte sie hervor. »Nichts, verstehst du? Wenn man uns fragt, sagen wir, daß wir nichts gesehen haben. Wir haben geschlafen. Hast du gehört?«
Er blieb plötzlich stehen. Die Hintertür stand einen Spalt weit offen. In der fahlen Helligkeit der Lichtgardinen war der Hof fremd und feindselig wie die dunkle Seite des Mondes. Eine Bewegung. Eine zwergenhafte Gestalt, die über den Hof rannte, über den Rasen.
»Komm!« Katrin hatte die Fahrstuhltür geöffnet. »Komm jetzt! Warum kommst du nicht?«
Jaumann starrte nach draußen. »Das Kind«, sagte er.
Das Kind hatte den Rand des Rasens erreicht. Jetzt klapperten die kleinen Füße über die Steinplatten. Im Zwielicht war das seltsam zweidimensionale, schemenhafte Oval eines Gesichts zu erkennen. Wie das eines Gespenstes. Hinten am Haus tauchten weitere Gestalten auf. Größere Gestalten mit zerzausten Krähenköpfen, und oben von einem der Fenster, aus der Wohnung der Sobrowskys, tönten verzerrte Stimmen. Jemand schrie. Eine Frau.
»Melina!« schrie die Frau. »Lauf, Melina, um Gottes willen, lauf!«
Die Silhouette eines Kopfes zeichnete sich gegen das weiße Rechteck des Fensters ab. Wie betrunken schwankte der Kopf hin und her.
Die Mutter, dachte Jaumann. Es ist die Mutter, die Sobrowsky.
»Melina!« schrie sie wieder. »Lauf, Melina, lauf!« Dann andere Köpfe, und Jaumann glaubte, den alten Meyer-Lansky zu erkennen, und die Sobrowsky schrie noch einmal, ein einziges Mal, und das Fenster wurde dunkel.
Katrins Hand legte sich auf seine rechte Schulter.
»Das Kind«, raunte Katrin. »Sie holen es. Sie holen dieses kleine Ungeheuer.«
Die Zwergengestalt stolperte und fiel, wurde von der Dämmerung aufgesogen, und wie alte, graue Riesenkatzen humpelten die Verfolger über den Hof, den Rasen, auf das Kind zu, begruben es unter sich. Jaumann wollte loslaufen, dazwischenfahren, aber Katrin hielt ihn fest. Er brachte nicht die Kraft auf, sich loszureißen. Er sah
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