Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
glitzernde Mähne.
„Solan“, hörte Ju sich sagen.
Der Löwe grunzte und kniff die Augen zusammen. Irgendetwas ging in ihm vor. Womöglich erkannte die Bestie ihn nicht als ihren Gefährten.
Der Tibeter richtete sich auf und schritt langsam auf ihn zu, soweit es das Tageslicht erlaubte. Elíns Tier duckte sich und ging rückwärts, knurrte ihn an. Er streckte seine rechte Hand nach ihr aus. Da machte sie kehrte und sprang durch eines der Fenster nach draußen, riss den ganzen Rahmen aus der Mauer.
„Nein!“, stieß Ju entsetzt aus. „Elín!“
Es gab einen dumpfen Aufprall, als der Löwe unten ankam, und ein erschütterndes Brüllen. Von der Straße drangen menschliche Schreie, Autohupen und Geräusche von quietschenden Reifen und Fahrzeugkollisionen durch die zerbrochene Scheibe. Und Ju erkannte verzweifelt, dass es nur noch einen Ausweg gab.
Er rannte ins Licht hinein, ignorierte die brennende Hitze, die augenblicklich über seine Haut züngelte, und folgte seiner Frau nach draußen.
Obwohl die Sonne nur noch schwach hinter den Wolken glühte, stieß Naham ein Brüllen aus, als Ju auf dem Asphalt landete und zwei tiefe Furchen darin hinterließ. Die Menschen starrten ihn an, waren sowohl von seiner Nacktheit als auch dem zehn Meter tiefen Fall erschrocken. Doch dem Ganzen schenkte er keine Aufmerksamkeit, für ihn gab es nur Elín, die auf der geschäftigen Straße innerhalb von Sekunden ein totales Chaos angerichtet hatte – Auffahrunfälle, fliehende Sterbliche, beschädigte Wasserhydranten, die Fontänen in den Himmel schickten. Aber Tote schien es bislang nicht zu geben. Der Göttin sei Dank! Ju blinzelte und drängte die aufkommende Unruhe zurück. Sein Tier aalte sich im späten Tageslicht, wollte hinaus.
„Reiß dich zusammen!“, befahl er und entdeckte Elíns Löwen am Ende der Straße.
Er teleportierte sich sprungweise vorwärts, um so schnell wie möglich zu ihr zu kommen, konnte das Leuchten seiner Haut dadurch nicht mehr aufhalten. Naham schmiegte sich von innen an ihn und stierte wie gebannt auf alles, was sich vor Jus Augen abspielte. Kreischende Menschen, totale Anarchie – eine Welt nach ihrem Geschmack. Fehlte nur das Blut. Der Tibeter schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken loszuwerden, und erreichte die Kreuzung. Elín war nach rechts in den Park abgebogen, aus dem eine aufgeschreckte Meute nach draußen strömte.
Ju nahm auf den Grünflächen Gestalt an. Sein Herz raste. Klauen schossen aus den Fingern hervor. Und das Brennen seiner Haut wurde unerträglich. Er hatte nur noch Sekunden, dann wäre alles zu spät.
Hinter ihm ertönte ein mürrisches Grunzen. Er wirbelte herum und fand den blonden Löwen auf der anderen Seite der zentralen Gedenkstatue. Mit triefenden Lefzen fixierte Elín eine junge Frau, die sich panisch gegen einen Baumstamm drückte, ihr weinendes Baby aus dem Kinderwagen zerrte und an die Brust presste.
„Elín!“, brüllte er. Doch sie reagierte nicht.
Thanju fand seine Konzentration nur mühsam wieder und teleportierte sich auf den Rücken des Löwen. Dieser bäumte sich auf, schnappte mit dem Maul zur Seite. Doch Ju umschlang den muskulösen Körper mit Händen und Beinen und stellte sich den einzig sicheren Ort vor, an den er sie jetzt bringen könnte. Zusammen mit seiner tobenden Gefährtin löste sich der Akkadier in glitzernden Nebel auf und beförderte sie zum Hochland, tief unter die schneebedeckte Erde, ins ehemalige Tarykversteck Assoras.
Weiter hätte er es nicht geschafft.
Dort angekommen fiel Elíns Bestie betäubt zur Seite. In Gestalt des Tieres konnte sich kein Unsterblicher teleportieren, dementsprechend schlecht musste sie eine aufgezwungene Reise auch vertragen. Und Ju selbst hatte es seine letzte Kraft gekostet. Er rollte sich keuchend auf den Rücken, gab dem drängenden Verlangen nach, endlich zu entspannen, und ließ Naham ins Freie.
Sein Körper verformte sich, wurde größer. Muskeln und Knochen dehnten sich. Fell wuchs aus der Haut hervor. Ju hatte es schon hunderte Male getan, doch diesmal löste die Verwandlung einen Strom von Glück in ihm aus. Er fühlte die Freiheit wie eine Sommerbrise im Herzen, als wäre Naham erst jetzt wahrhaftig erwacht, als hätte früher kein Grund für sie bestanden, ans Licht zu wollen. Doch heute gab es einen. Und dieser lag nur zwei Meter entfernt auf vereistem Granitboden und grunzte unzufriedene Laute.
Jus Löwe schüttelte und streckte sich, gähnte lautstark und begann zu schnurren. Er
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