Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
ihm vom ihrem Ausritt und dem Sturz. Dann kam sie zur der Stelle mit dem Löwen. „Und ich glaub, an diesem Punkt habe ich etwas durcheinander gebracht. Ich meine, immerhin gibt es keine verdammten Löwen in Island, schon gar keine mit langen goldenen Hörnern, und gesehen haben kann ich es ja auch nicht mehr. Schließlich war ich weggetreten und habe munter aus dem Kopf geblutet.“
Sie verlor sich in dem Bild, verlor sich in der Farbe des roten Saftes.
Rot.
Was war falsch daran?
Und warum empfand sie so?
Als etwas über ihre Schläfe streichelte, blickte sie erschrocken auf. Ju hatte seine Hand nach ihr ausgestreckt und strich ihr das Haar aus der Stirn. Doch noch ehe sie sich über diese unerwartete Geste wundern konnte, sagte er: „Du hast eine recht frische Narbe hier an deinem Kopf.“
Elín tastete danach. Ju nahm seinen Daumen von der Stelle und sie fand eine ganz leicht gewölbte, längliche Erhebung auf ihrer Kopfhaut. „Scheiße, nein! Es ist also wahr?“
„Zumindest teilweise.“
„Meine Fresse! Das ist ja mal wieder so was von typisch! So selten dämlich kann auch nur ich sein. Vom Pferd fallen und … Warte mal. Wieso habe ich kein Blut mehr an meinem Kopf? Und wie zum Teufel bin ich in der Höhle gelandet, in der ich gestern aufgewacht bin?“
„Was du gesehen hast, muss nicht alles gewesen sein.“
„Wir müssen das noch mal machen! Ich will das jetzt wissen, verdammt noch mal!“
Er sah sie einen Augenblick lang an. „Gut.“
„Soll ich mich wieder … dir gegenüber setzen?“, fragte sie zögerlich.
„Ja, das Feuer wird dir helfen, deinen Geist zu öffnen.“
„Genau. Geist öffnen und so.“ Elín rutschte neben die knisternden Flammen und machte es sich so bequem wie eben möglich.
Und der riesige Asiat ihr gegenüber legte seine Handflächen geöffnet auf die Knie. Sie presste ihre Lippen zusammen, ließ die Finger auf seine sinken und schaute ihn im Schein des Feuers an. Je öfter sie diesen bewussten Blickkontakt zu ihm suchte, desto tiefer erschienen die schwarzen Kreise in seinen Augen. Und auch das Kribbeln konnte sie nicht leugnen. Er senkte seine Lider und sie folgte ihm, lauschte seinem beruhigenden Atem und ließ sich treiben.
Kapitel 6
Thanju zog Elín mit sich und wies ihr den Weg. Wie bereitwillig sie sich ihm auslieferte, empfand er als erschreckend. Aber momentan erschreckte ihn sehr viel – was er gesagt hatte, wie er sie berührt hatte, wie er sie ansah und vor allem, was er dabei empfand.
Richtig.
Er empfand etwas.
Seit seinem Traum vermochte er die sogenannten Gefühle nicht mehr zu verdrängen. Sie kamen einfach über ihn, nahmen ihm jegliche Kontrolle und brachten seine Ruhe durcheinander.
Und genau das empfand er als störend.
Schon wieder – Empfinden.
Ju öffnete seine Augenlider und betrachtete die zierliche Frau vor sich. Noch war sie wach.
Noch …
Das Feuer verlieh ihrer blassen Haut und dem hellen Haar einen warmen Schimmer. Ihre Lippen hatten sich aufgrund der Entspannung leicht geöffnet, bildeten ein kleines ‚O‘. Die Windjacke stand auf, darunter trug Elín einen engen, schwarzen Rollkragenpullover. Nichtsdestotrotz konnte er, bei genauer Betrachtung, die schmale Ader an ihrem Hals pumpen sehen.
Verdammter Hunger!
Er musste sich etwas einfallen lassen.
Elíns Griff wurde fester. Ihre Augen bewegten sich hinter den Lidern. Und ihr Atem war kaum noch existent. Sie sah etwas. Und egal, wie schlimm es werden würde, er wäre ihr Anker.
Wenn sie aufwachte, würde er da sein.
Unweigerlich erinnerte sich Ju an seine letzte Meditation als Mensch. Bis vor kurzem hatte er zu leugnen gewusst, wann und wie sein Tod vonstattengegangen war. Aber dank der Bestie in seinen Träumen würde all das nun nach und nach wiederkehren.
Er kniff die Augen zusammen, als die Bilder schmerzvoll in seinen Kopf drangen.
Licht.
Stille.
Frieden.
Thanju befand sich in den Wolken, in seinem eigenen Reich der Erleuchtung, in seinem Zufluchtsort, wenn er versuchte Antworten zu finden. Er bewegte sich wie auf weichen Daunen, passierte riesige, weiß blühende Kirschbäume und saftig grüne Zedern. Fasane in schillernden Farbschattierungen begleiteten seinen Weg und am Ende des Pfades stand er auf dem Gipfel des heiligen Huang Shuas und blickte auf ein Wolkenmeer hinab.
Der Kaiser atmete tief ein und ließ sich von dem Licht durchströmen, spürte es in jeder Zelle seines Körpers. Schwacher Wind umkreiste ihn und ganz weit in der Ferne sah er
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