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Lichtraum: Roman (German Edition)

Lichtraum: Roman (German Edition)

Titel: Lichtraum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Gibson
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hatte, denn wenn sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie sich aufgehalten hatte, ehe sie an diesen Strand gelangt war, spürte sie nur Beklommenheit und eine böse Vorahnung.
    Aber ihr war klar, dass sie bis in alle Ewigkeit glücklich und zufrieden an diesem Strand sitzen und warten konnte.
    Gelegentlich blickte sie an ihren Armen und Beinen hinab, ohne diese Gliedmaßen wiederzuerkennen. Das Bewusstsein, dass etwas fehlte – dass ein bedeutender Teil von ihr für immer verloren war –, bildete sich langsam in einem hinteren Winkel ihres Verstandes heraus, doch diese allmähliche Erkenntnis focht sie nicht an. Sie empfand weder Groll noch Reue oder Verbitterung.
    Sie nahm lediglich wahr, dass etwas, das eigentlich da sein sollte, jetzt fehlte.
    Nach einer geraumen Weile entsann sie sich an einen Stern, zornig und rot, der nach ihr griff, um sie zu verschlingen. Ihr fiel wieder ein, dass es von Maschinen nur so gewimmelt hatte,
die das Universum ausgefüllt hatten wie eine Plage aus kleinen, schwarzen, metallischen Heuschrecken.
    Und kurz darauf kehrte die Erinnerung an ihren eigenen Tod zurück.
     
    Es konnten Stunden, Tage oder gar Jahre vergangen sein, als sie sich wieder an ihren Namen erinnerte: Dakota. Sie formte das Wort mit den Lippen, die Kiefer in einer unvertrauten Weise bewegend, als wollte sie ausprobieren, wie man die Vokale aussprach.
    Als sie sich umdrehte, sah sie, dass neben der Hütte ein mit frischem Obst beladener Bambustisch stand, und in diesem Augenblick war ihr, als würde in ihrem Inneren ein Schalter umgelegt. Einen jähen Heißhunger verspürend, stand sie auf und lief dorthin. Nachdem sie sich satt gegessen hatte, kletterte sie in die Hütte hinein, entrollte das Futon und legte sich schlafen.
    Sie träumte, sie wäre wieder ein kleines Mädchen. Die offene Tür der Hütte und der Streifen Strand, den sie einrahmte, verwandelten sich in ein hohes Fenster, das auf kopfsteingepflasterte Straßen hinausblickte, die von Häusern aus Stein und Stahl flankiert wurden. Sie lag da, während ihr Kopf auf dem Schoß der Mutter ruhte, und lauschte deren sanfter Stimme. Draußen stoben Schneeflocken von einem bleichen, beinahe weißen Himmel.
     
    Als Dakota das nächste Mal die Augen aufschlug, befand sie sich an einem anderen Ort.
    Sie kniete nackt auf einem felsigen Strand, der völlig anders war als der vorherige. Gesichter und Orte, die sie hätte kennen müssen, schwirrten durch ihren Geist wie Fetzen eines geschredderten Buchs, das ein Wirbelwind mitten in ihr Herz geschleudert hatte. Sie war unvollständig, ein unfertiges Puzzle, bei dem Stücke fehlten.
    Die Luft schmeckte seltsam nach Kupfer, und als sie sich umwandte, gewahrte sie anstelle einer Strandhütte und eines Tisches nur furchterregende Klippen, auf deren Spitzen ein verfilztes Dickicht aus blaugrüner Vegetation wucherte. Über diesem Dschungel erhoben sich Gebäude wie vergoldete Grabsteine, und weiter im Binnenland waren die Gipfel ferner Berge zu sehen.
    Sie schaute aufs Meer hinaus und entdeckte mehrere Kilometer von der Küste entfernt wuchtige Türme, die Minaretten gleich aus dem Ozean emporragten. Ihnen haftete etwas an, das in ihr die Überzeugung weckte, sie müssten sehr, sehr alt sein.
    Am Ufer lag ein Schiff der Weisen, das aussah, als wäre es dort auf Strand gesetzt worden. Es ließ die nahen Klippen winzig erscheinen und ragte hoch über ihr auf; der bauchige Rumpf war nach oben abgewinkelt, wie wenn es auf seinen Antriebsdornen stünde. Wellen klatschten gegen die Wölbung des teils im Wasser untergetauchten Schiffsleibs.
    In diesem Moment begriff Dakota: Die Schiffe der Weisen würden es niemals zulassen, dass sie starb.
     
    Sie erhob sich und spähte den Strand entlang, während die Kälte ihre bloße Haut zum Prickeln brachte; angestrengt versuchte sie sich an das Gesicht ihrer Mutter zu erinnern. Es war vergebens; das Einzige, was ihr in den Sinn kam, war das Bild einer tief verschneiten Straße. Anscheinend reduzierten sich ihre Erinnerungen an ihr Leben auf Bellhaven auf dieses eine Fragment, und der Rest war für immer verschwunden.
    Auf irgendeine Weise war das, was offenbar ihr Wesen ausmachte, der elementare Kern ihrer Identität, über die Lichtjahre hinweg befördert worden, um sie neu entstehen zu lassen. Ihre Erinnerungen an einen Strand und eine Hütte waren Bestandteil dieses Wiederherstellungsprozesses gewesen, als die Schiffe der Weisen begannen, ihr zerstörtes Gedächtnis zu

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